Es gibt keine Erlösung der Welt, sondern nur Verwandlung der Welt. Das
Leiden hat keinerlei magische Wirkung. Der Gerechte, der leidet, hat nicht wegen
seines Leidens Wert, sondern wegen seiner Gerechtigkeit, die dem Leiden
trotzt.
Emmanuel Lévinas
Mitte der achtziger Jahre sitzt ein junger, gerade aus dem DDR-Gefängnis in
den Westen abgeschobener Schriftsteller - Utz Rachowski ist sein Name - in einem
kleinen Zimmer in Westberlin und hält einen Brief von Hans Sahl in den
Händen. Es ist ein Luftpostumschlag mit richtigen amerikanischen
Briefmarken (Was hätte er als Kind in Reichenbach im Vogtland wohl alles
für diese Marken gegeben!), wichtig aber ist jetzt nur das Blatt Papier
innen, auf das Hans Sahl - damals schon halb erblindet - mittels einer alten
Schreibmaschine Sätze gehämmert hatte, in denen vielleicht ab und an
ein Wort oder ein Komma fehlte, deren Sinn jedoch eindeutig war: Schreiben Sie
weiter, hieß es da, Ihre Erzählung "Der letzte Tag der
Kindheit" knüpft in all seinem Heimweh und in all seiner Klarheit an
die besten Traditionen deutscher Prosa an ...
Der so gelobte Text, wir ahnen es, beschäftigte sich mit der als
traumatisch erfahrenen DDR. Aber jetzt war der junge Autor im Westen, verloren
mitten in Kreuzberg; wo sollten da neue Themen, vor allem aber neue Orientierung
herkommen. Also nimmt er nochmals Kontakt mit Sahl auf, spart sich etwas Geld
zusammen, ruft ihn an, das ist teurer, aber so muß guter Rat nun einmal
beschaffen sein. Ich stelle mir vor, wie Utz Rachowski vor einer dieser
graffitibesprühten Telefonzellen am Halleschen Tor steht, seine Münzen
zählt, türkischen Gastarbeitern, die mit ihm in der gleichen Schlange
warten, zuhört, ohne ihre Worte zu verstehen, und irgendwann dann Hans
Sahls Nummer in New York wählt. Ein Rauschen über Tausende von
Kilometern hinweg, Überraschung und Freude am anderen Ende der Leitung und
Utz Rachowskis nervöse, vielleicht sogar gestammelte Worte über die
bedrohliche Fremdheit seiner derzeitigen Lage. All das mußte man dem Hans
Sahl natürlich nicht lang und breit erläutern; Flüchtlinge und
Emigranten, Weggetriebene und Ausgebürgerte erkennen sich - über die
Jahrzehnte und die unterschiedlichen Systeme, vor denen sie fliehen
mußten, hinweg - an den geringsten Gesten, an Satzfetzen, vielleicht sogar
am Schweigen. Und so versuchte Sahl gar nicht erst, billigen Trost zu spenden,
er sagte einfach: "Kennen Sie Hilsenrath, Edgar Hilsenrath? Wenn nicht,
dann lesen Sie jetzt sofort "Bronskys Geständnis".
Ich weiß nicht, ob ihnen das weiterhilft, aber ich weiß, daß
Sie den Juden Jakob Bronsky, der als Emigrant und Aushilfskellner in New York
seinen Ghetto- Roman zu schreiben versucht, nie wieder vergessen werden."
Fast ein halbes Jahrhundert vor diesem Telefongespräch, im Herbst 1949,
sitzt ein junger Mann - Edgar Hilsenrath sein Name - in einem Bistro in Lyon und
bittet den Kellner um ein Glas Rotwein, einige Bögen Schreibpapier und
einen Bleistift.
Er hat etwas zu erzählen: 1926 in Leipzig geboren, 1938 vor den Nazis in
die Bukowina geflohen, vier Jahre im jüdischen Ghetto von Moghilev-Podolsk
am Dnjestr eingesperrt und diese Hölle überlebt, 1944 von den Russen
befreit und anschließend gleich wieder verhaftet, erneute Flucht, auf
verschlungenen Wegen nach Bukarest, dort Kontaktaufnahme zu einer zionistischen
Gruppe, mit gefälschtem Paß anschließend über die
Türkei und Syrien nach Palästina, wo sich gerade mit Blut und Bomben
das britische Protektorat auflöste.
Und Edgar Hilsenrath hatte Glück. Dank des Roten Kreuzes erfuhr er,
daß sein Vater, den er fast zehn Jahre nicht mehr gesehen hatte, den Krieg
überlebt hatte und nun in Lyon auf ihn wartete. Auch die Mutter und der
Bruder hatten aus der Ukraine entkommen können und befanden sich auf dem
Weg nach Frankreich.
Ja, er hatte etwas zu erzählen, eine Jahrhundertgeschichte, aber
ließen es 1949 seine Traumata schon zu, dafür auch die richtigen
Worte zu finden, Worte, die zwischen dem Schweigen und dem Inferno einen Weg
heraus ins Freie weisen könnten? Die Sätze wollten sich nicht
einstellen für das, was er zu sagen hatte; die Depressionen wurden
schlimmer, und Edgar Hilsenrath versuchte, das Schreiben ganz aufzugeben. Aber
in diesem Moment kommt auch hier wieder, diesmal ohne ein Telefongespräch,
das rettende Buch ins Spiel.
"Arc de Triomphe" hieß der Roman, den der
junge Hilsenrath gerade in dieser für ihn so schwierigen Zeit las; sein
Autor, Erich Maria Remarque, natürlich auch er ein Emigrant, hatte gezeigt,
wie man die Angst und die Hoffnungslosigkeit der Ereignisse bannen konnte, indem
man sie zu einer perfekt durchkomponierten Geschichte formte.
Es blieb, aber dies nur nebenbei, der Ignoranz zahlreicher deutscher
Literaturkritiker mit ihrem verqueren Avantgarde-Begriff vorbehalten, Remarques
packende Romane als leicht konsumierbare Unterhaltungsliteratur
abzuqualifizieren und das allzu oft verzweifelte Ringen um Gestaltbarkeit und
Anschaulichkeit, das heißt auch: um Kommunikation mit dem Leser, als
Verbeugung vor einem sogenannten "Massengeschmack" zu denunzieren.
Für Hilsenrath war Arc de Triomphe und die Geschichte des vor der
Gestapo nach Paris geflohenen Doktor Ravic jedoch der Beweis, daß man
allen Theorien zum Trotz erzählen kann, ja daß man erzählen
muß, um zu berichten, was war und was ist. In seinem 1996
erschienenen autobiografischen Roman Die Abenteuer des
Ruben Jablonski schreibt er über dieses Erlebnis: "Zum
ersten Mal hatte ich gesehen, wie einer in knappster Sprache Atmosphäre
einfängt, gute Charaktere schafft, rasend spannend erzählen kann und
vor allem Dialoge schreibt, wie ich sie noch nie gelesen hatte. Das brachte mich
auf den Gedanken, meinen Ghettoroman ähnlich zu schreiben. Nicht etwa,
daß ich nachahmen wollte, aber die Art und Weise, wie Remarque mit
scheinbar leichter Hand eindrucksvolle Szenen beschrieb und mit ganz eigenen
Dialogen würzte, wollte ich auch hinbekommen ...
Ich spürte plötzlich, daß es soweit war. Ich trank Wein und
schrieb wie besessen. Nach zwei Stunden hatte ich dreißig Seiten
geschrieben. Ich wußte plötzlich: es klappte. Ich kann schreiben. Ich
bin Schriftsteller. Der Kellner räumte gerade ab und verschloß die
Außentür. ´Wir schließen`, sagte er zu mir. ´Ja,
ich weiß`, antwortete ich lächelnd. Ich gab ihm den Bleistift und den
Rest des Schreibpapiers zurück, zahlte, drückte ihm ein gutes
Trinkgeld in die Hand und ging."
Die Entdeckung Remarques war gerade zur richtigen Zeit gekommen, obwohl Edgar
Hilsenrath auch schon vorher gutgemeinte Ratschläge erhalten hatte. Max
Brod, dem er kurz nach seiner Ankunft in Palästina einen Brief geschrieben
hatte, in dem er von seinen Ängsten und den Schwierigkeiten beim Schreiben
berichtete, hatte damals dem völlig unbekannten Zuwanderer in seiner
warmherzigen Weise sofort geantwortet und empfohlen, Gottfried Kellers
Grünen Heinrich und Jens Peter Jacobsens Niels Lyhne zu
lesen, um sich ausgerechnet anhand solcher Lektüren weiterzubilden. Aber
Hilsenrath hatte bereits am eigenen Leib erfahren müssen, daß dieses
20. Jahrhundert eine verdammt schlechte Basis für beschauliche
Entwicklungsromane bot; dann schon lieber Remarque. 1951 verließ er
Frankreich in Richtung Amerika. Mit 50 Dollar in der Tasche kam er in New York
an und suchte sich einen Job als Wochenendkellner, bei dem er soviel verdiente,
daß er sich die restliche Woche über Wasser halten und an seinem
Roman weiterarbeiten konnte. Der Titel stand bereits fest:
Nacht würde das Buch heißen und den
Überlebenskampf im Ghetto von Moghilev-Podolsk beschreiben.
Aber wie sollte man mit der Vergangenheit fertig werden, wenn doch auch die
Gegenwart so fremd und ungastlich war? Wenn man um die Miete eines
erbärmlichen Mansardenzimmers feilschen muß, in den Büros
windiger Jobvermittler herumhängt, wenn man ausgetrickst oder schlichtweg
ignoriert wird und von einem Heiratsvermittler sogar erfährt, daß man
ohne Geld immer allein bleiben wird, keine ernsthafte Beziehung eingehen kann
und man noch nicht einmal für die Nutten in den Seitenstraßen des
Broadway ein ernstzunehmender Kunde ist. Wie überlebt man also das
Überleben, wie kommt man damit zurecht, daß die Brutalität von
der Banalität abgelöst worden ist, daß man frei ist und doch
für niemanden existiert, daß sich nie authentisch vermitteln lassen
wird, was einem in Verhörzellen und Konzentrationslagern widerfahren ist?
Primo Levi und Jean Améry, wir wissen es, sind an diesem Dilemma zugrunde
gegangen. Edgar Hilsenrath hat sich für die Farce entschieden, den
Slapstick und die forcierte Tabuverletzung, um einen Ausweg zu finden. So
bemerkt sein Protagonist in Bronskys
Geständnis : "Ich hatte einige Schwierigkeiten, aber schaffte
es mit dem üblichen Trick. Eigentlich war die Welt noch in Ordnung. Ich war
zwar hungrig und verspürte ein leichtes Schwindelgefühl, aber
schließlich: was konnte mir schon passieren? Keiner würde mich nach
Auschwitz verschleppen."
Vielleicht sollte man den 1964 erschienenen Ghetto-Roman
Nacht , an dem Hilsenrath über ein ganzes Jahrzehnt
gearbeitet hatte, und den Emigranten-Roman Bronskys Geständnis,
der 1980 publiziert wurde, parallel lesen. Jene, die noch immer meinen,
Unglück veredele, könnten hier schnell ihre Illusionen verlieren.
Hilsenrath nämlich hält nichts von dem romantischen Masochismus,
daß Opfer automatisch die besseren Menschen seien, im Gegenteil: Statt
Heroen zeigt er gepeinigte Menschen und deren Schwächen, zeigt, daß
Neid, Gier, Feigheit und Verrat in Zeiten des Eingesperrtseins und der
existentiellen Bedrohung sogar noch zunehmen. Diese Art der Darstellung, die
jeden empathischen Lyrismus meidet, hat ihm - Gipfel der Paradoxie - in den
sechziger Jahren den Vorwurf eingetragen, antisemitische Stereotype zu bedienen;
der Kindler-Verlag ließ von Nacht
schließlich nur eintausend Exemplare drucken. Ein allzu bekanntes Spiel in
der Erziehungspädagogischen Republik Deutschland: Die Gojim erklären
einem Juden, wie man sich am besten erinnert und den Alltag in den Lagern
angemessen darstellt; Sinngebung um jeden Preis. Daß aber gerade
die schonungslose Konfrontation mit erbärmlichen Verhaltensmustern in einer
lebensbedrohenden Ghetto-Situation die größtmögliche Anklage
darstellte gegen eine Zeit, die Menschen solcherart zu Wölfen werden
ließ - kaum einer hatte dies damals verstanden. Vielleicht könnte man
Hilsenraths Nacht als Motto jene Bemerkung von Albert
Camus aus den Briefen an einen deutschen Freund voranstellen, in der er
darauf insistiert, daß Illusionslosigkeit keineswegs mit bequemem
Nihilismus verwechselt werden dürfte: "Ich glaube weiterhin", so
schreibt Camus, "daß unserer Welt kein tieferer Sinn innewohnt. Aber
ich weiß, daß etwas in ihr Sinn hat, und das ist der Mensch, denn er
ist das einzige Wesen, das Sinn fordert. Diese Welt besitzt zumindest die
Wahrheit des Menschen, und unsere Aufgabe besteht darin, ihm seine Gründe
gegen das Schicksal in die Hand zu geben."
Genau dies tut Hilsenrath auch mit seinem Alter ego Jakob Bronsky. In einer
Emigranten-Caféteria Ecke Broadway/86. Straße sitzt er jede Nacht
und schreibt an seinem autobiografischen Lager-Roman. Er erwartet nichts mehr
von der Welt, hat alle hochfliegenden Träume längst begraben - und
weigert sich gerade aus diesem Grund zu kapitulieren. Das Buch endet mit einer
geradezu Hilsenrath-typischen Lakonie, die freilich eine andere Vokabel für
humane Stärke ist:
"Ich sitze im Fernsehstudio. Millionen Deutsche sehen mich und können
mich hören.
Interviewer; ,Herr Bronsky. Millionen können Sie in diesem Augenblick
hören und sehen!`
Bronsky: ,Ich weiß.`
Interviewer: ,Warum haben Sie Ihr Buch geschrieben?`
Bronsky: ,Um gesund zu werden.`
Interviewer: ,Die Kritiker sagen, Sie schrieben noch besser als Kafka. Wo haben
Sie eigentlich Germanistik studiert?`
Bronsky: ,Ich hab' ne Menge Bücher gelesen.`
Interviewer: ,Das ist kein Germanistikstudium.`
Bronsky: ,Ich war auch auf der Universität.`
Interviewer: ,Auf welcher?`
Bronsky: ,Auf der Herrentoilette in Donalds Pinte am Times Square.`
Interviewer: ,Ist das eine Universität?`
Bronsky: ,Ja.`
Interviewer: ,Erklären Sie das.`
Bronsky: ,Dort stand ein großer Neger und urinierte. Wir unterhielten uns
im amerikanischen Slang. Da kriegte ich die richtige Distanz zur deutschen
Sprache.`
Interviewer: ,Wie sind Sie Schriftsteller geworden?`
Bronsky: ,Ich wurde geschlaucht.`
Interviewer: ,Von wem?`
Bronsky: ,Vom Leben.`
Interviewer: ,Herr Bronsky. Haben Sie dem deutschen Volk irgendetwas zu sagen?`
Bronsky: ,Den Alten hab' ich nichts zu sagen. Die wissen Bescheid.`
Interviewer: ,Und den Jungen?`
Bronsky: ,Den Jungen möchte ich sagen, daß sie mein Buch lesen
sollen.`
Interviewer: ,Ihr Buch über das jüdische Ghetto?`
Bronsky: ,Mein Buch gegen Gewalt und Unmenschlichkeit!`"
Kein Wunder, daß Hans Sahl damals so eindringlich seinem aus der DDR
ausgebürgerten Kollegen den Hilsenrathschen Roman empfahl; er ist bis heute
ein faszinierendes Antidot gleichermaßen gegen Vergessen und Larmoyanz
geblieben.
Nun ist es bei Preisreden gewöhnlich Usus, eine Verbindungslinie zwischen
dem Werk des Preisträgers und dem des Preis- Namensgebers zu ziehen, was in
den meisten Fällen heißt: zu konstruieren.
Ich glaube, es wäre jedoch unsinnig, nun zwanghaft Parallelen zu ziehen und
germanistisch herumdokternd zwei OEuvres miteinander identisch zu machen, die
sich doch gerade durch ihre Distanz zueinander hervorragend ergänzen. Da
sind die Bücher eines durch die Publizistik der Weimarer Republik
geprägten feinnervigen Intellektuellen, der wie kaum ein anderer die
ideologischen, aber auch ästhetischen Bruchstellen dieses Jahrhunderts
sondiert hat, und da sind die packenden Romane eines geborenen Storytellers, der
sich auf ironisch gebrochenen Sex & Crime - siehe die
hinreißende Farce vom "Moskauer
Orgasmus" - genauso versteht wie auf Märchenhaftes, ja,
Transzendentales. Was beide aber auszeichnet, ist ihre humane Wachheit, ihre
unbestechliche Zeugenschaft, knapp und präzis formuliert in den
berühmten Zeilen eines Hans-Sahl- Gedichtes: "Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus. Wir sind zuständig."
Nun ist es mit dem Fragen aber so eine Sache - man braucht Leute, die fragen,
ein ziviles Klima, in dem Neugierde wächst. In Deutschland, wo sich Linke
und Rechte traditionell zumindest darin einig sind, über alles und jedes
genauestens Bescheid zu wissen, ein etwas schwieriges Unterfangen. Daß
Edgar Hilsenrath, 1975 nach Deutschland zurückgekehrt und seitdem in Berlin
lebend, auf Lesereisen von NPD-Anhängern angepöbelt und bedroht wurde,
ist dabei leider nicht einmal eine Überraschung. Frappierend hingegen der
Fakt, daß auch die hauptamtlichen Vergangenheitsbewältiger der
Republik für den Mann mit dem Schnurrbart und der Baskenmütze nicht
allzuviel übrig zu haben scheinen. Dies zeigte auch der Umgang mit seinem
Roman "Der Nazi & der Friseur". Obwohl
bereits 1971 mit großem Erfolg bei Doubleday in New York
veröffentlicht - Hilsenrath jobbte während dieser ganzen Zeit noch
immer als Kellner -, fand dieses Buch in der Bundesrepublik fast zehn Jahre
keinen Verleger. Es war schließlich nur dem Engagement des kleinen
Literarischen Verlages Helmut Braun zu verdanken, daß der Nazi und der
Friseur, diese beklemmende Geschichte des Massenmörders Max Schulz,
der nach dem Krieg die Identität seines toten jüdischen Schulfreundes
Itzig Finkelstein annimmt, in Deutschland überhaupt wahrgenommen wurde.
Hier, wo sich hehrer Idealismus und pure Barbarei in der Geschichte so oft die
Hand gereicht hatten, mußte Hilsenraths schrille Parabel stören.
Suggerierte sie denn nicht, daß letztlich alles austauschbar war und Gut
und Böse nur unverbindliche Kategorien? Führt Max Schulz in Israel als
nunmehr jüdischer Patriot nicht ein geradezu aberwitzig glückliches
Leben? Ja, aber nur bis zu dem Zeitpunkt, in dem er im "Wald der sechs
Millionen" die Stimmen seiner Opfer hört:
", Ich hab's ja gewußt.`
, `Was ... gewußt?`
, `Daß du Angst kriegst, Max.`
, `Woher weißt du das?`
, `Ich sehe den Angstschweiß auf deiner Stirn. Und deinen offenen Mund.`
, `Ist das so?`
, `Ja. Das ist so. Zu allerletzt, da stirbt ein Kerl wie du ... mit ,ihrer`
Angst.`
, `Wessen Angst?`
, `Mit der Angst deiner Opfer, bevor sie starben.`
, `Soll das die gerechte Strafe sein?`
, `Nein.`"
Auch hier also: keine billige Gaukelei vom glücklichen Ende, keine Illusion
über die sich schließlich durchsetzende Gerechtigkeit - aber aus
dieser Einsicht gerade die Zähigkeit und Intensität, jene
Gerechtigkeit dennoch immer wieder einzufordern. Als "die aus amoralischen
Voraussetzungen zutage tretende Moral" hat nach Erscheinen des Buches
damals kein Geringerer als Friedrich Torberg in der Welt diese ganz
spezielle Hilsenrathsche Ethik und Ästhetik gewürdigt.
Das ist eine Weltsicht, die stets mit dem Schlimmsten rechnet und sich nicht
scheut, das Schlimmste auch drastisch zu benennen - und gerade so gegen das
Vergessen und das glättende Schweigen ankämpft. So sagt im "
Märchen vom letzten Gedanken", jenem Buch, das
Edgar Hilsenrath selbst als sein bestes bezeichnet, der Armenier Thovma
Khatisian gegen Ende seines Lebens: "Ich weiß, daß mein letzter
Gedanke zurückfliegen wird in die Lücken der türkischen
Geschichtsbücher. Und weil ich das weiß, werde ich friedlicher
sterben als andere vor mir, die das nicht wußten."
Dieser Roman, der an den Völkermord an den Armeniern 1915 erinnert, ist ein
einziger unterbrochener Dialog. Hilsenraths Sprache ist hier noch konzentrierter
geworden, eine äußerste Verknappung, die auf alle
ausschmückenden Adjektive verzichtet. Der Geschichtenerzähler bewegt
sich mühelos durch Zeit und Raum, er erzählt vom Leben und Sterben des
armenischen Volkes, ein humaner Diskurs über Erinnern und Vergessen,
über die Unmöglichkeit und die Notwendigkeit, Geschichten zu
erzählen, um das Individuum wieder in sein Recht zu setzen.
Und es scheint, als hätte Hilsenrath all die widerwärtigen Pseudo-
Debatten - relativiert das Gedenken an das Schicksal der Armenier nicht etwa die
Shoah, darf man überhaupt über die kommunistischen Massenmorde
sprechen, wenn man die der Nazis nicht verharmlosen will -, als hätte er
all dieses obszöne Aufrechnen und Tabellen-Erstellen schon vorausgeahnt,
als er seinen Märchenerzähler prophezeien läßt:
"Aber glaube mir, mein Lämmchen. Egal, was da auf uns
losstürzt: die Historiker werden sich ins Fäustchen lachen, besonders
die Zuständigen für zeitgenössische Geschichte, denn sie brauchen
zur Unterbrechung ihrer Langeweile neuen Stoff, einen Stoff, mit dem sich
arbeiten läßt. In ihrer Phantasielosigkeit werden sie nach Zahlen
suchen, um die Massen der Erschlagenen einzugrenzen - sie sozusagen: zu erfassen
-, und sie werden nach Wörtern suchen, um das große Massaker zu
bezeichnen und es pedantisch einzuordnen. Sie wissen nicht, daß jeder
Mensch einmalig ist, und daß auch der Dorftrottel im Heimatdorf deines
Vaters das Recht auf einen Namen hat."
Arthur Koestler hat einmal geschrieben: "Jede Kultur ist eine Insel; sie
kann wohl mit anderen Inseln kommunizieren, aber letzten Endes bleibt das
Erlebnis des Tragischen und Komischen auf das eigene Klima
beschränkt." Hier jedoch irrt der Autor der Sonnenfinsternis.
Schade, daß er keine Gelegenheit mehr hatte, nachzulesen, wie Edgar
Hilsenrath, ein Jude aus Leipzig, der die Nazizeit überlebte, etwa ein
Verhör beschreibt, das während des Ersten Weltkrieges irgendwo
weit hinten in der Türkei einen Armenier dazu bringen soll, eine
armenische Weltverschwörung zuzugeben, die dann den türkischen
Militärs das Alibi für den Völkermord schaffen würde.
Rubaschow und der stalinistische Kommissar Gletkin oder der armenische
Familienvater Wartan Khatisian und Müdir Bey, der türkische
Foltermeister - Kulturen sind eben doch keine Inseln, und die Geschichte
wiederholt sich. Übrigens bis hinein in unsere Tage, wo die Bundesrepublik
der Türkei zur sogenannten "Terroristenbekämpfung" Waffen
liefert und die Regierung in Ankara dem französischen Parlament
unverhüllt droht, da es im Juni dieses Jahres einen Satz gebilligt hatte,
der da hieß: "Frankreich erkennt öffentlich den armenischen
Genozid von 1915 an."
Im
"Märchen vom letzten Gedanken"
hatte ein türkischer Minister auch dies schon vorausgesehen:
"Das Flüstern der toten Armenier könnte über die
Landesgrenzen dringen und überall gehört werden ... Andere
Flüsterstimmen könnten zu flüstern anfangen, auch die, die es nie
gewagt haben, laut zu flüstern. Es würde ein großes
Geflüster werden, wenn alle, die Opfer waren auf dieser Welt, sich
plötzlich mit ihren geflüsterten Klagen melden. Die ganze Welt
würde in ihrem Geflüster ersticken. Wo kämen wir da hin? So
mancher von uns würde Bauchschmerzen kriegen, denn die Flüsterstimmen
der Opfer stören die Verdauung."
Edgar Hilsenrath hat für sein Buch jahrelang recherchiert; bis nach San
Francisco ist er gefahren, um in den dortigen Bibliotheken Dokumente über
das Leben in den armenischen Dörfern der Jahrhundertwende zu sichten. Der
Roman, das höchst realistische Märchen, den er daraus gemacht hat,
sichert ihm - das kann man ganz ohne Übertreibung sagen - einen ganz
besonderen Platz im kulturellen Gedächtnis des armenischen Volkes.
Prüfen Sie es ruhig einmal nach, gehen Sie in die Armenierviertel von
Beirut, von Paris oder New York und fragen Sie nach Namen. Die wilhelminischen
Ministerialbeamten, die präzis über den Massenmord informiert waren
und dennoch nichts unternahmen, um die mit dem kaiserlichen Deutschland
verbündete Türkei zu stoppen, diese gesichtslosen Bürokraten sind
längst in den wohlverdienten Orkus des Vergessens gefallen. Aber erinnern
wird man sich an Karl Liebknecht, der damals als einer der wenigen im deutschen
Reichstag seine Stimme erhob, erinnern wird man sich an Armin T. Wegener, der
die ersten Fotos über die dahingemordeten Armenier publizierte, an den
mutigen Johannes Lepsius, für den es in Eriwan sogar eine Ehrentafel gibt,
erinnern wird man sich natürlich an den fast zum armenischen
Nationalheiligen gewordenen Franz Werfel und seinen Roman Die vierzig Tage
des Musa Dagh - und dann wird man auch den Namen Edgar Hilsenraths nennen,
dessen "Märchen vom letzten
Gedanken" in einer dreibändigen Ausgabe auf armenisch
erschienen ist und hymnische Kritiken erhalten hat.
Da ist diese Legende von den wenigen Gerechten; solange es sie gibt, wird die
Welt nicht untergehen ... Sie wissen wahrscheinlich, worauf ich hinaus will,
aber Edgar Hilsenrath, der gerade ziemlich skeptisch guckt, kann derlei
Erhöhung sicherlich nicht allzuviel abgewinnen. Er ist ja - auch darin ein
Solitär innerhalb der deutschen Literatur - weder ein verkniffener
Innerlichkeits-Apostel noch einer jener Talkshow-Engagierten, die
regelmäßig vor einem Millionenpublikum die Suppe ihrer eigenen
Betroffenheit löffeln. Und doch ist er, der nicht religiös ist und nie
zur volkspädagogischen Platitüde neigte, einer, der das 11. Gebot
ernst nimmt wie kaum ein zweiter, jenen ethischen Imparativ, der da heißt:
Erinnere Dich!
In "Jossel Wassermanns Heimkehr" hat Edgar Hilsenrath die
untergegangene Welt der Schtetl-Juden in der Bukowina noch einmal zum Leben
erweckt, und aus dem verschlossenen Zug, der sie alle in die Vernichtung bringen
wird, läßt er den Rebben des Ortes mit dem Wind da draußen ein
letztes hochsymbolisches Gespräch führen:
"Und der Wind da draußen, der flüsterte dem Rebben etwas ins
Ohr. Und der Rebbe nickte und sagte: 'Ja, du hast vollkommen recht. Die Gojim
sind dumm. Sie plündern jetzt unsere Häuser. Und sie graben in unseren
Gärten. Und sie glauben, daß wir alles zurückgelassen haben, was
wir besaßen. Und sie lachen sich ins Fäustchen. Dabei wissen sie
nicht, daß wir das Beste mitgenommen haben.'
, Was ist das Beste?', fragte der Wind.
Und der Rebbe sagte: 'Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenommen ... Wir haben
nur das Vergessen zurückgelassen, und was wir mitgenommen haben, ist das
Erinnern.' "
Die Menschenschinder aller Couleur werden sich davon kaum beeindrucken lassen.
Für ihre Opfer aber, die Lebenden und die Toten, sind diese Sätze die
einzige Garantie, nicht in die Namenlosigkeit zu fallen, zu keiner abstrakten
Nummer zu werden, sondern das zu bleiben, was sie immer schon waren:
unverwechselbare Individuen.
Wir wären zweifellos ärmer, gäbe es nicht Sie und Ihre
Bücher, lieber Edgar Hilsenrath, um uns stets aufs neue an die
Verletzlichkeit und den Wert des Humanen zu erinnern.
HANS-SAHL-PREIS
Der Preis wird jährlich vom "Autorenkreis der Bundesrepublik"
vergeben. Der "Autorenkreis der Bundesrepublik" wurde von DDR-
Dissidenten und -Kritikern begründet, die mit den langjährigen PEN-
Querelen unzufrieden waren. Der Geschäftsführer des Autorenkreises ist
Joachim Walter.
Die bisherigen drei Preisträger waren: H.-J. Schädlich, Günter
Kunert und Anja Lundholm.
Marko Martins Laudatio wurde am 11. September 1998 im Literaturhaus Berlin
gehalten.
Quelle:
Kommune 11/1998