Die Unsäglichkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -
vernichtung wurde scheinbar zum Unsagbaren. Eine belletristische Verarbeitung
der Shoah wurde daher zunächst prinzipiell in Frage gestellt, wegen
unangemessener ästhetisierung oder zu krassem Realismus. Theodor W. Adorno
diente mit seiner Aussage als Beleg: daß man nach und vor allem über
Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne. Seine schrittweise
Aufhebung, daß »das Leiden soviel Recht auf Ausdruck (hat) wie der
Gemarterte zu brüllen«, weshalb »falsch gewesen sein (mag),
nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben« (Adorno,
Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1975, S. 355), wurde nicht mehr
registriert. Heute gibt es die Frage nach dem »Ob« einer solchen
Literatur nicht mehr. Es existiert eine umfassende belletristische Literatur zur
Shoah: Autobiographien, Romane, Gedichte, Kurzgeschichten, Balladen. Die Frage,
um die es heute geht, lautet vielmehr: Ist die Form gut gewählt? Sind
Sprache und Gestaltung dem Thema angemessen? Doch wer sich dazu aufschwingt,
darüber zu urteilen, ob ein vielleicht eher unbeholfener Bericht eines
überlebenden, das Werk Primo Levis oder gar die sprachliche Verfremdung wie
bei Paul Celan ästhetisch »besser« sind, sollte vorsichtig
sein, denn vieles entzieht sich einer Bewertung. Begreifbar sind die
beschriebenen Ereignisse kaum. Und die letzte Grausamkeit, der endgültige
Realismus, bleiben dem Leser ohnehin verborgen, denn dies überfordert
zumeist sogar die Grenzen des Schreibenden. Zu bedenken ist auch, daß
Literatur über die Shoah immer von Engagement beseelt ist. Sogar noch in
ihrem schrecklichsten Realismus.
Edgar Hilsenrath, am 2. April 1926 in Leipzig geboren, ist ein solch zynisch -
melancholisch - schrecklicher Realist. 1938 wurde er gemeinsam mit der Mutter
und dem jüngeren Bruder vom Vater, der noch nach Frankreich fliehen konnte,
nach Siret in die rumänische Bukowina geschickt. Rumänien
verbündete sich mit Nazideutschland, 1941 wurden die Juden aus Bessarabien
und der Bukowina in das von Rumänien besetzte ukrainische Transnistrien
deportiert. Die dortigen Ghettos waren unbeschreiblich hoffnungslose Orte. Im
März 1944 wurde Hilsenrath befreit. Seine Familie hatte überlebt und
ging Anfang der 50er Jahre in die USA. Hilsenrath kehrte 1975 nach Deutschland
zurück und lebt heute in Berlin.
Seinen Debütroman »Nacht« begann er bereits 1950. Er schilderte
ein Ghetto in Transnistrien, schonungslos und offen. Die Menschen im Ghetto
werden zu Tieren, rücksichtslos und voller Angst, vor dem Nächsten
unterzugehen. So ist auch die Liebe in diesem Ghetto unromantisch, ohne Zukunft
und ohne gegenseitige Versprechen. »Nacht« zeigt die Opfer nicht als
edle, sondern als der Hölle überantwortete Menschen, die von den
Verfolgern zynisch kalkuliert dem Recht des Stärkeren ausgesetzt werden.
Der Roman erschien 1978 erstmals in deutscher Sprache.
»Der Nazi & der Frisör« wurde 1971 zuerst in den USA
publiziert und erschien 1977 in Deutschland. Es ist eine erbarmungslose Satire.
Ein SS- Mörder gibt sich nach Kriegsende als der möglicherweise durch
ihn eigenhändig umgebrachte Jugendfreund Itzig Finkelstein aus, lebt
schließlich als angesehener Mann in Israel, kommt aber am Ende mit seiner
Vergangenheit nicht mehr zurecht. Eine Erlösung wird ihm jedoch verweigert.
Beide Romane waren große Erfolge in den USA, Frankreich und England.
Heinrich Böll war von Hilsenrath begeistert, und vielleicht war es auch
dessen Fürsprache zu verdanken, daß die folgenden Romane des stets in
deutsch schreibenden Hilsenrath ebenfalls hier verlegt werden konnten.
Ein weiteres Meisterwerk war »Das Märchen vom letzten
Gedanken«, das den Genozid an den Armeniern Anfang des Jahrhunderts
thematisiert. Doch die endgültige Rettung des Hauptprotagonisten tritt
nicht ein. Er entkommt den türkischen Mördern und gerät
schließlich in die Vernichtungsmaschinerie der Nazis.
Hilsenrath ist ein fabulierender Erzähler des Grauens, ein Satiriker des
Unsagbaren und ein tabubrechender Meister der Burleske. Er schildert Menschen,
keine Helden. Gerade das machte ihn so vielen nichtjüdischen Lesern
suspekt. Sie wollten Opfer, mit denen man einfacher mitleiden kann. Keine
komplexen Menschen, die dem Klischee des Philosemiten nicht mehr entsprechen.
Doch Hilsenrath baut höchstens Klischees auf, um diese dann provokant und
zugleich realistisch zu brechen.
Dem Menschen und großen Schriftsteller ein Mazel Tov und bis 120¡
Quelle:
TRIBÜNE,
Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 35. Jg., Heft 138, 2. Quartal 1996.
Mit freundlicher Genehmigung von Susanne Urban-Fahr.