Das ist wieder einmal einer jener leicht verschatteten Herbstnachmittage, wenn
die Schritte über gefallenes Laub gehen, etwas schlierig, etwas matschig, Kinder
unvermittelt um die Ecke biegen, um hinter ihren fröhlichen Rufen alsbald wieder
zu verschwinden, während im Licht langsam vorbeifahrender Autos einsame
Spaziergänger wie durch einen Hermann-Hesseschen Nebel zu wandern scheinen: Und
keiner weiß vom anderen. Berlin-Friedenau im November 2004, die Zeitungen oben
am Kiosk an der S-Bahnstation Feuerbachstraße sind wieder voll vom jährlichen
Gedenkgeschnatter, und just da möchte man in das wattige Gewusel hineinrufen:
Leipzig (und es wäre ein anderes Leipzig als das von 1989), Bukowina, Moghilev-
Podolsk, Tel Aviv (auch das würde ein anderes sein als heute), Lyon, New York
und schließlich - Berlin. Leute, wißt ihr eigentlich, wer hier ganz in der Nähe
wohnt, in einer bücherumstellten und weniger schäbigen als vielmehr beinahe
gemütlichen Hochparterrewohnung? Edgar Hilsenrath, deutscher Schriftsteller
jüdischer Herkunft. 1926 in Leipzig geboren, 1938 mit Mutter und jüngstem Bruder
in die Bukowina geflüchtet, die Hölle eines von rumänischen Faschisten
eingerichteten Juden-Ghettos am Dnjestr überlebt, nach der "Befreiung" den
Russen, die ihn gleich wieder internieren wollten, entwischt, und auf
verschlungenen Wegen nach Bukarest entkommen. Dort Kontaktaufnahme zu einer
zionistischen Gruppe und anschließend mit gefälschtem Paß über die Türkei und
Syrien nach Palästina, mitten hinein in die letzten Tage des britischen
Protektorats.
Das "mitten hinein" hätte er übrigens wohl aus seinen Texten gestrichen - die
Wunder des Überlebens sperren sich der auftrumpfenden Minimalisierung in Es-ist-
ja-nochmal-gut-gegangen-Anekdoten. Die Bücher, die Edgar Hilsenrath über all
diese Abschnitte seines Lebens geschrieben hat, sind Romane und keine Memoiren,
und all die Leser, Zuschauer und Rezensenten, die in den vergangenen Jahren so
enthusiastisch auf Louis Begleys "Lügen in Zeiten des Krieges" oder die Buch-
und Filmversion des "Pianisten" reagierten, möchte man gern fragen, ob sie denn
wirklich noch nie etwas von Hilsenraths Ghettoroman "Nacht", von der Bukowina-
Heraufbeschwörung "Jossel Wassermanns Heimkehr" oder der surrealen Farce "Der
Nazi & der Friseur" gehört haben.
Edgar Hilsenrath, seit Januar diesen Jahres Witwer, sitzt neben einem kleinen
Radiator auf seiner Couch, gebeugt, schlohweiß der borstige Schnurbart und die
strubbligen Haare. Er, seine Bücher und die deutschen Verlage - es ist eine
lange, schon oft erzählte Geschichte, in der sich allzu häufig die hiesige
Verdrängungssehnsucht mit philosemitischer Verdruckstheit paarte, was letztlich
dazu führte, daß "Nacht", sein epochaler Erstling aus dem Jahre 1964, nicht die
ihm zustehende Aufmerksamkeit erhielt, die zur gleichen Zeit in den Vereinigten
Staaten etwa Jerzy Kosinskis "Bemaltem Vogel" vergönnt war: Beides
autobiographisch geprägte Romane, die radikal mit dem romantischen Masochismus
aufräumten, die gehetzten Opfer des 20. Jahrhunderts wären automatisch und immer
auch die besseren Menschen.
Soviel Drastik aber durfte freilich lange nicht sein in der
erziehungspädagogischen Republik Deutschland: Die Gojim erklärten einem Juden,
wie man sich gefällig richtig erinnert, und der Kindler Verlag zog "Nacht"
alsbald wieder aus dem Verkehr.
Hilsenrath zuckt mit den Schultern. Lange, lange vorbei. Primo Levi und Jean
Améry sind damals am Dilemma des Unverstandenseins zugrunde gegangen,
überwältigt vom letztlich unbeschreibaren Wechsel der Brutalität hinein in die
Banalität, der großäuigen Ignoranz einer ahnungslosen Mitwelt.
Hilsenrath aber hatte sich bereits in den Sechzigern - nach einigen Jahren in
Israel und einem Zwischenaufenthalt in Lyon, der die unerwartete Wiederbegegnung
mit dem Vater brachte, lebte er inzwischen in New York - für den Slapstick und
die forcierte Tabuverletzung entschieden, für das Lachen des Opfers, das um
keinen Preis mehr ein Opfer sein möchte. Kein Geringerer als Friedrich Torberg
hatte seinerzeit in der WELT das radikal Neuartige dieser Ästhetik gespürt, als
er dem "Nazi & der Friseur" eine "aus amoralischen Voraussetzungen zutage
tretende Moral" attestierte. Während das Buch um den Massenmörder Max Schulz,
der nach dem Krieg die Identität seines ermordeten jüdischen Schulfreundes Itzig
Finkelstein annimmt, bereits 1971 bei Doubleday in New York mit großem Erfolg
veröffentlicht wurde, dauerte es noch fast zehn Jahre, bis sich in der
Bundesrepublik in Gestalt des rührigen Kleinverlegers Helmut Braun jemand fand,
der das Meisterwerk drucken wollte. In diesem Roman führt der Nazi Schulz, sich
erfolgreich herüberlügend auf die Seite der Opfer, in Israel ein glückliches
Leben - wenigstens solange, bis er im "Wald der sechs Millionen" die Stimmen
seiner Opfer hört:
"Ich hab's ja gewußt." - "Was...gewußt?" - "Daß du Angst kriegst, Max." - "Woher
weißt du das?" - "Ich sehe den Angstschweiß auf deiner Stirn. Und deinen offenen
Mund." - "Ist das so?" - "Ja. Das ist so. Zu allerletzt, da stirbt ein Kerl wie
du...mit ,ihrer" Angst." - "Wessen Angst?" - "Mit der Angst deiner Opfer, bevor
sie starben." -"Soll das die gerechte Strafe sein?" -"Nein."
Derlei ist, um Kleist abzuwandeln, die Verfertigung verdrängter Tatsachen beim
Fragen - und keine Klezmer-Idyllik weit und breit, die es den nachgeborenen
Deutschen erlauben würde, sich in ihrer Unschuld zu suhlen und zufrieden-
rührselig zum Taschentuch zu greifen. "Du sollst nicht weinen", schrieb einmal
Claude Lanzman, um das Entlastungsritual eilig sprudelnden Tränenflusses
wissend. Und vielleicht liegt es ja genau daran, daß trotz mancher Preise und
Ehrungen Edgar Hilsenrath im literarischen Bewußtsein dieses Landes höchstens am
Rande verankert ist - fast wie damals während seiner ersten Berliner Jahre in
den Siebzigern, als sich der Rückkehrer mit diversen Kellnerjobs durchschlagen
mußte.
In der kommenden Woche wird er nun von der Berliner Akademie der Künste mit dem
Lion-Feuchtwanger-Preis ausgezeichnet, der Wiener Lyriker Robert Schindel wird
die Laudatio halten, und Edgar Hilsenrath - krummer Rücken, hinter den
Brillengläsern aber hellwache, beobachtende, manchmal sogar schalkhaft blitzende
Augen - antwortet auf die erwartbare Nachfrage ziemlich lapidar: "Ob ich
Feuchtwanger gelesen habe? Hab ich. Sein Stil ist ein bißchen altmodisch, aber
er war ein guter Story-teller." Punkt. Wer Hilsenrath vor einigen Jahren
besuchte und nach Lektüre-Erfahrungen fragte, hörte immer wieder den Namen Jack
Kerouac - und nebenan aus der Küche die sanft tadelnde Ergänzung von Frau
Marianne: "Sag ruhig, daß du noch mehr gelesen hast."
Jetzt aber ist es still in der Wohnung, und man weiß oder ahnt zumindest: Edgar
Hilsenrath hat mit Ausnahme des von ihm noch immer geschätzten Erich Maria
Remarque so viel mehr wohl nicht gelesen - er ist kein Intellektueller, kein
Essayist, kein an tagesaktuellen Statements Interessierter. Und doch -
Rätselwunder, das bleibt - ist er einer der großen Stilisten dieses Landes,
schöpfend aus der eigenen Erinnerung, diese jedoch nie realistisch-platt
abschildernd, unübertroffener Meister der knappen, suggestiven Form, für die es
in der hiesigen Literatur weder Vorläufer noch Schüler gibt, denn bei aller
Herr-Keunerschen Lakonie - ein didaktischer Ideologe wie Brecht ist Hilsenrath
nie gewesen, konnte es aufgrund seines Naturells gar nicht sein.
Im New-York-Roman "Bronskys Geständnis", in dem ein mitteloser und sexuell
ausgehungerter Holocaust-Überlebender versucht, ein großes Erinnerungsbuch zu
verfassen, schreibt Hilsenrath: "Interviewer: ,Die Kritiker sagen, Sie schrieben
besser als Kafka. Wo haben Sie eigentlich Germanistik studiert?" Bronsky: ,Auf
der Herrentoilette in Donalds' Pinte am Times Square. Dort stand ein großer
Neger und urinierte. Wir unterhielten uns im amerikanischen Slang. Da kriegte
ich die richtige Distanz zur deutschen Sprache.""
Nachdem sein langjähriger Hausverlag Piper weder genug Puste noch Anstand hatte,
die Hilsenrathschen Bücher - darunter solch erfrischende Travestien wie den
"Moskauer Orgasmus", den Israelroman "Die Abenteuer des Ruben Jablonski" oder
das großartige "Märchen vom letzten Gedanken" - auch weiterhin in der Backlist
zu führen, hat es nun der noch recht unbekannte Dittrich Verlag gewagt, für
seinen Autor eine liebevoll gestaltete Gesamtausgabe von anvisierten elf Bänden
einzurichten.
In seinem Armenien-Epos "Märchen vom letzten Gedanken" hat Hilsenrath den Opfern
des ersten Genozids im 20. Jahrhundert ein literarisches Denkmal gesetzt - und
allen akademischen Vergleichsverboten ebenso ein Schnippchen geschlagen wie
jenem sanft säuselnden Instant-Humanismus à la "Es darf sich nicht wiederholen".
Denn es wiederholt sich - in just genau diesem Moment, in dem Sie diese Zeilen
lesen. Vor Jahren nannte der "Spiegel" Edgar Hilsenrath einen "Pierrot des
Schreckens". Unsere Vergeßlichkeit muß sich messen lassen an seinen
Erinnerungen.
Quelle:
Die Welt 20. 11. 2004