E d g a r   H i l s e n r a t h






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Von Edgar Hilsenrath

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Die ZEIT
Angst vor der Wirklichkeit
Von Bernd Wagner


Die ZEIT
Der kleine König
Von Cornelia Staudacher


Die WELT
zur Ehrung von
Edgar Hilsenrath mit dem
Lion Feuchtwanger Preis


Darf man so schreiben?
Der Gott der kleinen Stimmen


Zum 80. Geburtstag
von Edgar Hilsenrath


Die Akademie der Künste
ehrt Edgar Hilsenrath
mit einer Ausstellung


Die Akademie der Künste
verleiht Edgar Hilsenrath
den Lion Feuchtwanger Preis


Laudatio auf den
Hans-Sahl-Preisträger
Edgar Hilsenrath


Laudatio anlässlich
der Verleihung des
Alfred-Döblin-Preises
1989


Thomas Kraft (Hrsg.)
Das Unerzählbare
erzählen


Der Grenzgänger
Edgar Hilsenrath
wurde siebzig
Jahre alt


Auch Bücher
können täuschen
Leben im Land
der Täter:
Der Schriftsteller
Edgar Hilsenrath




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Mit Edgar Hilsenrath

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Impressum

Links



"Verliebt in die deutsche Sprache - Die Odyssee des Edgar Hilsenrath"

Wanderausstellung des
Edgar-Hilsenrath-Archivs
der Akademie der Künste
Berlin

15. Mai bis 14. Juli 2006
HS Fulda Transfer
Fulda

1. bis 28. August 2006
Gerhart-Hauptmann-Haus
Düsseldorf






Lion Feuchtwanger Preis

Denn es wiederholt sich

Porträt eines Solitärs: Edgar Hilsenrath kämpft gegen das Vergessen und erhält den Lion-Feuchtwanger-Preis
Von Marko Martin

Das ist wieder einmal einer jener leicht verschatteten Herbstnachmittage, wenn die Schritte über gefallenes Laub gehen, etwas schlierig, etwas matschig, Kinder unvermittelt um die Ecke biegen, um hinter ihren fröhlichen Rufen alsbald wieder zu verschwinden, während im Licht langsam vorbeifahrender Autos einsame Spaziergänger wie durch einen Hermann-Hesseschen Nebel zu wandern scheinen: Und keiner weiß vom anderen. Berlin-Friedenau im November 2004, die Zeitungen oben am Kiosk an der S-Bahnstation Feuerbachstraße sind wieder voll vom jährlichen Gedenkgeschnatter, und just da möchte man in das wattige Gewusel hineinrufen: Leipzig (und es wäre ein anderes Leipzig als das von 1989), Bukowina, Moghilev- Podolsk, Tel Aviv (auch das würde ein anderes sein als heute), Lyon, New York und schließlich - Berlin. Leute, wißt ihr eigentlich, wer hier ganz in der Nähe wohnt, in einer bücherumstellten und weniger schäbigen als vielmehr beinahe gemütlichen Hochparterrewohnung? Edgar Hilsenrath, deutscher Schriftsteller jüdischer Herkunft. 1926 in Leipzig geboren, 1938 mit Mutter und jüngstem Bruder in die Bukowina geflüchtet, die Hölle eines von rumänischen Faschisten eingerichteten Juden-Ghettos am Dnjestr überlebt, nach der "Befreiung" den Russen, die ihn gleich wieder internieren wollten, entwischt, und auf verschlungenen Wegen nach Bukarest entkommen. Dort Kontaktaufnahme zu einer zionistischen Gruppe und anschließend mit gefälschtem Paß über die Türkei und Syrien nach Palästina, mitten hinein in die letzten Tage des britischen Protektorats.

Das "mitten hinein" hätte er übrigens wohl aus seinen Texten gestrichen - die Wunder des Überlebens sperren sich der auftrumpfenden Minimalisierung in Es-ist- ja-nochmal-gut-gegangen-Anekdoten. Die Bücher, die Edgar Hilsenrath über all diese Abschnitte seines Lebens geschrieben hat, sind Romane und keine Memoiren, und all die Leser, Zuschauer und Rezensenten, die in den vergangenen Jahren so enthusiastisch auf Louis Begleys "Lügen in Zeiten des Krieges" oder die Buch- und Filmversion des "Pianisten" reagierten, möchte man gern fragen, ob sie denn wirklich noch nie etwas von Hilsenraths Ghettoroman "Nacht", von der Bukowina- Heraufbeschwörung "Jossel Wassermanns Heimkehr" oder der surrealen Farce "Der Nazi & der Friseur" gehört haben.

Edgar Hilsenrath, seit Januar diesen Jahres Witwer, sitzt neben einem kleinen Radiator auf seiner Couch, gebeugt, schlohweiß der borstige Schnurbart und die strubbligen Haare. Er, seine Bücher und die deutschen Verlage - es ist eine lange, schon oft erzählte Geschichte, in der sich allzu häufig die hiesige Verdrängungssehnsucht mit philosemitischer Verdruckstheit paarte, was letztlich dazu führte, daß "Nacht", sein epochaler Erstling aus dem Jahre 1964, nicht die ihm zustehende Aufmerksamkeit erhielt, die zur gleichen Zeit in den Vereinigten Staaten etwa Jerzy Kosinskis "Bemaltem Vogel" vergönnt war: Beides autobiographisch geprägte Romane, die radikal mit dem romantischen Masochismus aufräumten, die gehetzten Opfer des 20. Jahrhunderts wären automatisch und immer auch die besseren Menschen.

Soviel Drastik aber durfte freilich lange nicht sein in der erziehungspädagogischen Republik Deutschland: Die Gojim erklärten einem Juden, wie man sich gefällig richtig erinnert, und der Kindler Verlag zog "Nacht" alsbald wieder aus dem Verkehr.

Hilsenrath zuckt mit den Schultern. Lange, lange vorbei. Primo Levi und Jean Améry sind damals am Dilemma des Unverstandenseins zugrunde gegangen, überwältigt vom letztlich unbeschreibaren Wechsel der Brutalität hinein in die Banalität, der großäuigen Ignoranz einer ahnungslosen Mitwelt.

Hilsenrath aber hatte sich bereits in den Sechzigern - nach einigen Jahren in Israel und einem Zwischenaufenthalt in Lyon, der die unerwartete Wiederbegegnung mit dem Vater brachte, lebte er inzwischen in New York - für den Slapstick und die forcierte Tabuverletzung entschieden, für das Lachen des Opfers, das um keinen Preis mehr ein Opfer sein möchte. Kein Geringerer als Friedrich Torberg hatte seinerzeit in der WELT das radikal Neuartige dieser Ästhetik gespürt, als er dem "Nazi & der Friseur" eine "aus amoralischen Voraussetzungen zutage tretende Moral" attestierte. Während das Buch um den Massenmörder Max Schulz, der nach dem Krieg die Identität seines ermordeten jüdischen Schulfreundes Itzig Finkelstein annimmt, bereits 1971 bei Doubleday in New York mit großem Erfolg veröffentlicht wurde, dauerte es noch fast zehn Jahre, bis sich in der Bundesrepublik in Gestalt des rührigen Kleinverlegers Helmut Braun jemand fand, der das Meisterwerk drucken wollte. In diesem Roman führt der Nazi Schulz, sich erfolgreich herüberlügend auf die Seite der Opfer, in Israel ein glückliches Leben - wenigstens solange, bis er im "Wald der sechs Millionen" die Stimmen seiner Opfer hört:

"Ich hab's ja gewußt." - "Was...gewußt?" - "Daß du Angst kriegst, Max." - "Woher weißt du das?" - "Ich sehe den Angstschweiß auf deiner Stirn. Und deinen offenen Mund." - "Ist das so?" - "Ja. Das ist so. Zu allerletzt, da stirbt ein Kerl wie du...mit ,ihrer" Angst." - "Wessen Angst?" - "Mit der Angst deiner Opfer, bevor sie starben." -"Soll das die gerechte Strafe sein?" -"Nein."

Derlei ist, um Kleist abzuwandeln, die Verfertigung verdrängter Tatsachen beim Fragen - und keine Klezmer-Idyllik weit und breit, die es den nachgeborenen Deutschen erlauben würde, sich in ihrer Unschuld zu suhlen und zufrieden- rührselig zum Taschentuch zu greifen. "Du sollst nicht weinen", schrieb einmal Claude Lanzman, um das Entlastungsritual eilig sprudelnden Tränenflusses wissend. Und vielleicht liegt es ja genau daran, daß trotz mancher Preise und Ehrungen Edgar Hilsenrath im literarischen Bewußtsein dieses Landes höchstens am Rande verankert ist - fast wie damals während seiner ersten Berliner Jahre in den Siebzigern, als sich der Rückkehrer mit diversen Kellnerjobs durchschlagen mußte.

In der kommenden Woche wird er nun von der Berliner Akademie der Künste mit dem Lion-Feuchtwanger-Preis ausgezeichnet, der Wiener Lyriker Robert Schindel wird die Laudatio halten, und Edgar Hilsenrath - krummer Rücken, hinter den Brillengläsern aber hellwache, beobachtende, manchmal sogar schalkhaft blitzende Augen - antwortet auf die erwartbare Nachfrage ziemlich lapidar: "Ob ich Feuchtwanger gelesen habe? Hab ich. Sein Stil ist ein bißchen altmodisch, aber er war ein guter Story-teller." Punkt. Wer Hilsenrath vor einigen Jahren besuchte und nach Lektüre-Erfahrungen fragte, hörte immer wieder den Namen Jack Kerouac - und nebenan aus der Küche die sanft tadelnde Ergänzung von Frau Marianne: "Sag ruhig, daß du noch mehr gelesen hast."

Jetzt aber ist es still in der Wohnung, und man weiß oder ahnt zumindest: Edgar Hilsenrath hat mit Ausnahme des von ihm noch immer geschätzten Erich Maria Remarque so viel mehr wohl nicht gelesen - er ist kein Intellektueller, kein Essayist, kein an tagesaktuellen Statements Interessierter. Und doch - Rätselwunder, das bleibt - ist er einer der großen Stilisten dieses Landes, schöpfend aus der eigenen Erinnerung, diese jedoch nie realistisch-platt abschildernd, unübertroffener Meister der knappen, suggestiven Form, für die es in der hiesigen Literatur weder Vorläufer noch Schüler gibt, denn bei aller Herr-Keunerschen Lakonie - ein didaktischer Ideologe wie Brecht ist Hilsenrath nie gewesen, konnte es aufgrund seines Naturells gar nicht sein.

Im New-York-Roman "Bronskys Geständnis", in dem ein mitteloser und sexuell ausgehungerter Holocaust-Überlebender versucht, ein großes Erinnerungsbuch zu verfassen, schreibt Hilsenrath: "Interviewer: ,Die Kritiker sagen, Sie schrieben besser als Kafka. Wo haben Sie eigentlich Germanistik studiert?" Bronsky: ,Auf der Herrentoilette in Donalds' Pinte am Times Square. Dort stand ein großer Neger und urinierte. Wir unterhielten uns im amerikanischen Slang. Da kriegte ich die richtige Distanz zur deutschen Sprache.""

Nachdem sein langjähriger Hausverlag Piper weder genug Puste noch Anstand hatte, die Hilsenrathschen Bücher - darunter solch erfrischende Travestien wie den "Moskauer Orgasmus", den Israelroman "Die Abenteuer des Ruben Jablonski" oder das großartige "Märchen vom letzten Gedanken" - auch weiterhin in der Backlist zu führen, hat es nun der noch recht unbekannte Dittrich Verlag gewagt, für seinen Autor eine liebevoll gestaltete Gesamtausgabe von anvisierten elf Bänden einzurichten.

In seinem Armenien-Epos "Märchen vom letzten Gedanken" hat Hilsenrath den Opfern des ersten Genozids im 20. Jahrhundert ein literarisches Denkmal gesetzt - und allen akademischen Vergleichsverboten ebenso ein Schnippchen geschlagen wie jenem sanft säuselnden Instant-Humanismus à la "Es darf sich nicht wiederholen". Denn es wiederholt sich - in just genau diesem Moment, in dem Sie diese Zeilen lesen. Vor Jahren nannte der "Spiegel" Edgar Hilsenrath einen "Pierrot des Schreckens". Unsere Vergeßlichkeit muß sich messen lassen an seinen Erinnerungen.

 

Quelle:

Die Welt 20. 11. 2004