Es scheint, als brächte dieser Döblin-Preis zwei Autoren zusammen, die
buchstäblich nichts miteinander zu tun haben, als werde hier Döblins
Name für eine wilde Preiskleberei benutzt. Denn der eine, Edgar Hilsenrath,
erzählt ein Märchen. Der andere, Einar Schleef, schreibt ein Endspiel
in Erzählform.
Märchen handeln von der Unmoral der Wirklichkeit und von wunderbaren
Reparaturmöglichkeiten. Endspiele sind trostlose Botschaften aus dem
Grenzland zwischen dem Sein und dem Nichts. Die Erlösung, die das
Märchen tatkräftig bewerkstelligt, ist ein verrotteter Gedanke am
Horizont des Endspiels. Das fremde Leben des Endspiels ist nicht mehr zu heilen.
Die Menschen sitzen in einer leeren Welt und warten und reden, körperlose
Gehirne, Stummelgestalten. Was ihnen geblieben ist, die Sprache, verbrauchen sie
in sinnlos-automatischen Mitteilungen über ihr totes Leben. Worte, das sind
letzte Signale, Erinnerungen ans Leben. Das Endspiel sagt: »Was uns
bleibt, ist die Hoffnung, daß der Tod nicht mißlingt.« Und:
»Unser fortgesetzter Wunsch nach Optimismus ist eine
Lebenslüge.« Dieser Optimismus nährt das Märchen.
Märchen reden über die Wirklichkeit, indem sie radikal
fiktionalisieren. So gewinnen sie ihr Geschichten ab, wunderbare Geschichten.
Das Wunderbare ist die Wirklichkeit des Märchens. Märchen sind die
Umkehrform des Endspiels.
Kurzum, es scheint endgültig festzustehen, daß kein Weg von
Hilsenrath zu Schleef führt, von dem Märchen vom
letzten Gedanken zu dem hörspielartigen Einakter über die
Einsamkeit, der den Titel Zigaretten trägt. Was läge wohl auch weiter
auseinander als die Geschichte des türkischen Genozids an den Armeniern,
die Hilsenrath aufgreift, und das Gedankenprofil eines Menschen, der um die
Ecke, in einem Reihenhaus in Reinickendorf oder Steglitz eine Flasche Schnaps
leert. Ich steuere in die Gegenrichtung. Sie merken es. Gleich werden Edgar
Hilsenrath und Einar Schleef nicht nur hier auf dem Podium leibhaftig
nebeneinandersitzen, sondern in Gestalt ihrer Figuren auch literarisch
zusammenrücken, und zwar ganz zwanglos, wie ich meine. Nicht, weil ich
für das Symmetrische bin. Ein geteilter Literaturpreis, das heißt ja
nicht: hier sind zwei Texte gefunden worden, die zusammen einen Döblin-
Preis ergeben. Oder etwa, hier herrsche ein Geist, ein Sinn, ein Kunstverstand.
Alles andere als das ist der Fall.
Hilsenraths Märchenerzähler streichelt mit seiner Stimme den, der ihm
zuhört. Mit seinen formelhaften Wiederholungen, seinen Erzählritualen
besänftigt er sein Gegenüber. Es ist im Text der letzte Gedanke in
Person, vor den Deckeln des Buchs ist es der Leser. Er wird in ein Gespräch
gezogen, das zwischen Frage und aufklärender Antwort seinen
rnärchenhaft utopischen Glanz entfaltet und das Bedürfnis nach der
Bewältigung, ja nach Disziplinierung und Humanisierung des Grauens
befriedigt. Schleefs Tantalus ist allein und ohne diesen Horizont einer
spirituellen Heimat, sein Monolog eine kunstvolle Quälerei. Die Nähe
der beiden Texte ist unterirdischer Art. Sie hängt mit dem Ort zusammen,
von dem aus gesprochen wird, vom Ende her. Bei Schleef handelt es sich um die
letzten schäbigen Aufnahmen eines heruntergekommenen Individualismus. Auch
bei Hilsenrath wird gründlich gestorben. Thovma Khatisian stirbt, ein alter
Armenier, der nicht weiß, wer er ist, denn er wurde als Neugeborener
aufgelesen, irgendwo am Rande einer der Straßen, auf denen die Türken
bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Armenier in den Tod trieben. Der
Sterbende mobilisiert in seinem Kopf die Widerstandskraft erfindender
Erinnerung. So kommt es zum Märchen vom letzten Gedanken. Es erzählt
die Geschichte der Armenier und besonders die Geschichte des einen, Wartan
Khatisians, der der Vater Thovmas war. So besiegt Thovma erzählend den Tod,
den eigenen wie den seines Volkes. Wie alle Märchen hält Thovmas
Geschichte enge Verbindung zum Glauben, auch zum Glauben an das Erzählen.
Darum findet bei Hilsenrath das Endspiel draußen statt. Der Alptraum endet
an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein. Gelegentlich wandert
das Märchen sogar in die Wirklichkeit aus und heilt sie. Die Frau, die den
Säugling Thovma rettet, heißt Maria und ist eine muslimische
Türkin. Ihr Mann heißt Jussuf. So kontaminiert Hilsenrath eine
anatolische Landstraße, Bethlehem und die Geschichte vom ausgesetzten
Moses.
Das Bewußtsein der Katastrophe ist der Ausgangspunkt der Erzählung
bei beiden Autoren. Aber Hilsenrath ist Apokalyptiker. Er erzählt die
Geschichte des armenischen Volkes als Passionsgeschichte, deren
Auferstehungskapitel der Text selbst ist, Das Märchen
vom letzten Gedanken . Mit seinern »Roman des armenischen
Traumas«, so der Untertitel des Buches, erneuert er eine literarische
Erinnerungsarbeit, die vor ihm schon einmal ein deutsch- jüdischer
Schriftsteller geleistet hat. Im November 1933 erschien Franz Werfels Roman Die
vierzig Tage des Musa Dagh. Ein halbes Jahr zuvor hatten die Nazis seine
Bücher auf ihren Scheiterhaufen verbrannt. Werfel sorgte mit seinem Buch
für das geistige überleben der Armenier. Zugleich beschrieb er
prophetisch das Schicksal der Minoritäten, noch bevor das Thema neue
schlimme Aktualität gewann. Allerdings erzählte er den Roman einer
Errettung, eine Mosesgeschichte. Für solche Triumphe des Menschlichen war
im "Dritten Reich" dann kein Platz.
Hilsenrath greift den Stoff pünktlich in einem Augenblick auf, da die
Geschichte mit ihren eigenen Wiederholungen in Farcenform beschäftigt ist.
Ausgerechnet in einem sozialistischen Staat brechen religiöse
Gegensätze zwischen Moslems und Christen, Armeniern, auf. Und ein
steinzeitlicher Fundamentalismus verbrennt wiederum Bücher auf
Scheiterhaufen und jagt Schriftsteller, die von der Freiheit des Wortes Gebrauch
machen. Wie unheimlich der Boden ist, auf dem wir leben, wie dünn seine
zivilisatorische Decke, die Barbarei, die unter ihr lauert, das kann -
Hilsenrath zeigt es - auf besondere Weise das Märchen vermitteln, denn Es
steht mit einem Bein tief in der Vergangenheit. Es hält Verbindung zur
mythischen Kindheitsgeschichte unseres Bewußtseins, zu seiner archaischen
Erbschaft.
Märchen sind Zeitspalter. Sie handeln von einem Diesseits und einem
Jenseits, mischen das Wunderbare und das Natürliche, das Unbegreifliche und
das Begreifliche. Das Märchen verbindet archaisches und rationales Denken.
Darum ist Es begabt, Unmenschlichkeit zu beschreiben, den Rückfall des
Bewußtseins in die Barbarei. Es hält zusammen, was im Innersten
auseinanderfallen will: das Primitive sinnloser Grausamkeit, die zwischen Motiv
und Tat keinen Zusammenhang mehr erkennen läßt, und den Fortschritt
der Methoden, die Planmäßigkeit, das Systematische der Greuel, ihre
Rationalităt.
Die Folter und Hinrichtungsmethoden der jungtürkischen Beamten im
Provinzgefängnis von Bakir ähneln primitiven Menschenopferriten von
Naturvölkern. Aber sie gehen planmäßig vor. Sie schlachten mit
Verstand. Ein riesiger Spagat des menschlichen Bewußtseins zwischen
Steinzeit und Atomzeitalter wird vorgeführt und die fiktionalen Leistungen
solcher Akrobatik. So kommt es, daß mitten im
Märchen vom letzten Gedanken lauter
Märchen erzählt werden, zum Beispiel das Märchen von der
Weltverschwörung international versippter Armenier. Sie haben in Sarajewo
das österreichische Thronfolgerehepaar erschossen, um die Türkei in
den Krieg gegen Rußland zu verwickeln, denn von den Russen erhoffen sie
sich die Befreiung aus türkischer Herrschaft. Aber die Geschichte des
Wartan Khatisian ist kein Greuelmärchen. Wie alle Märchenerzähler
erzählt er viele Märchen im Märchen, zum Beispiel das von der
Nacht, die sich auf Diebesfüßen aus den Bergen in die Stadt
schleicht, weil die Kurden die Sonne gefesselt haben. Oder das Märchen vom
Riesen am Berge Ararat. Märchenerzähler wie Hilsenrath sind
kenntnisreiche Ethnologen. Allerdings ist die bäuerliche Welt der Armenier,
von der er berichtet, märchenhafte Vergangenheit. Alles, was geschieht, ist
Kopfzeug, das Material eines letzten Gedankens. Jemand versichert sich seines
Daseins, das zu Ende geht. Sprechen und Leben, Denken und Existenz beweisen sich
gegenseitig. (...)
Schleef erzählt aus der Perspektive unterhalb des Personalen, aus den
Kellerräumen des Bewußtseins. Er zeichnet auf, was sich zwischen
Plasma und Bewußtsein eben noch regt. So kommt er an die Verluste heran,
von denen Hilsenrath im historischen Rahmen erzählt. Beide Autoren
beschäftigen sich mit der extremsten Erfahrung dieses Jahrhunderts:
daß die Zivilisation, in der wir leben, die Kultur, auf die wir uns soviel
zugute halten, kein verläßlicher und nicht einmal ein wirklich
angeeigneter Besitz ist. Die prähistorischen Zeichen, die Alfred
Döblin im modernen Roman gelesen hat, haben sich bei Hilsenrath und Schleef
gewissermaßen vollinhaltlich durchgeschlagen. So, unter
prähistorischem Zeichen, nämlich dem des historischen
Gedächtnisses, sind sie am Ende alle drei beieinander: Alfred Döblin,
Edgar Hilsenrath und Einar Schleef.
veröffentlicht in:
Kraft, Thomas (Hrsg.): Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen
Piper Verlag, München 1996.