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"Verliebt in die deutsche Sprache - Die Odyssee des Edgar Hilsenrath"

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Auch Bücher können täuschen

Leben im Land der Täter:
Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath wird 70

Von Dirk Kurbjuweit

Er sieht so fröhlich aus. Verschmitzte Augen unter einer Baskenmütze, die schief auf dem Kopf sitzt. An den Schläfen wild wucherndes Haar. Der Mund verdeckt von einem buschigen Schnurrbart. Das ist Edgar Hilsenrath, wie ihn die Photos auf seinen Büchern zeigen. Und oft passen sie zum Inhalt: Bei Hilsenrath darf gelacht werden, selbst wenn es um den Holocaust geht.

Photos täuschen manchmal. Bücher auch. Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath ist nicht fröhlich, kein bißchen. Am 2. April wird er siebzig und findet das "erschreckend". Das Leben, sagt er, gehe zu Ende. Aber nicht der Geburtstag nimmt ihm die Fröhlichkeit. Es gab sie nie.

Was hat er auch schon zu lachen gehabt? Ein jüdischer Junge in Halle zur Nazizeit. Ein Gefangener im Ghetto von Moghilev-Podolsk in der Ukraine. Ein Tagelöhner in New York. Ein erfolgloser Schriftsteller. Ein erfolgreicher Schriftsteller ohne den ganz großen Erfolg. Ein Rekonvaleszent nach einem Schlaganfall. Leichtigkeit? "Nur beim Schreiben. Ich habe wahnsinnige Spannungen in mir. Beim Schreiben löst sich das." Humor? "Hatte ich früher nie. Durch die vielen Enttäuschungen hat er sich entwickelt, als Schutz vor Verletzungen."

Er sitzt in Berlin-Steglitz in einer Wohnung, die einem ganz und gar erfolglosen Schriftsteller gehören könnte. Sie ist klein und so bescheiden eingerichtet, als habe Edgar Hilsenrath in seinem Leben keine fünftausend Bücher verkauft. Wieviele es wirklich waren, weiß er nicht. Doch schon "Nacht" sowie "Der Nazi & der Friseur" haben in Deutschland über 150 000 Käufer gefunden, in den Vereinigten Staaten noch viel mehr. Geld besitzt er also, aber er scheint es nicht auszugeben, jedenfalls nicht für Möbel.

Den Schnurrbart hat er noch, auch das wuchernde Kopfhaar. Anders als auf den Photos dominiert nun die Farbe grau. Und er guckt nicht fröhlich. Manchmal macht es ihm Mühe, sich zu konzentrieren. Vor drei Jahren hatte Edgar Hilsenrath einen Schlaganfall, der ihm sein altes Leben raubte. Nicht mehr nächtelang durch Berlins Kneipen stromern. Nicht mehr ausgedehnt spazierengehen. Während des Gesprächs steht er einmal auf, um eins seiner Bücher aus dem überquellenden Regal zu holen. Er geht eckig, tastend. Er lernt noch. Es wird schon, doch vielleicht nie mehr wie es war.

Aber er schreibt. Sein neues Buch, das achte, liegt beim Lektor, und im Frühjahr 1997 wird es erscheinen. Wieder schöpft Edgar Hilsenrath aus einem Leben, das fast erfunden scheint, um den Stoff für Romane herzugeben. Diesmal wird er die Nachkriegszeit beschreiben, als er dem Ghetto entkommen war und sich zu Fuß und auf einem Pferdefuhrwerk bis nach Palästina durchschlug. Dort hat er es nicht lange ausgehalten, ging nach Frankreich und 1951 nach New York, wo er über zwanzig Jahre gelebt hat.

In New York schrieb Hilsenrath seinen ersten Roman. Er war einsam und arm, weshalb er diese Zeit heute seine "verlorenen Jahre" nennt. Er meint es so: ein Nichts, ein schwarzes Loch. "Ich saß", sagt er, "in einem Gefängnis aus Büchern." Er las viel und auf Deutsch, um seine Sprache nicht zu vergessen. Denn niemand habe Deutsch mit ihm gesprochen, aber er wollte, er mußte auf Deutsch schreiben: Gedichte. Novellen, den Roman "Nacht", mit dem ihm in den Vereinigten Staaten der Durchbruch gelang.

"Nacht" schildert das Leben in einem Ghetto für Juden während des Zweiten Weltkriegs. "In Dantes Inferno geht es nicht höllischer zu", schrieb der Spiegel in einer Rezension. "Zum Wolf gewordene Menschen schlagen sich für eine verfaulte Kartoffel, kämpfen brutal und gerissen um einen elenden Schlafplatz." Das Buch zeigt Juden, wie man sie im Deutschland der sechziger Jahre nicht zeigen durfte. Juden hatten gut zu sein. Alles andere war Antisemitismus. Hilsenraths Erinnerungen, würde man heute sagen, waren politisch nicht korrekt. Kindler brachte "Nacht" 1964 zwar heraus, nahm das Buch aber nach kurzer Zeit wieder vom Markt. Dabei ließ der Autor keinen Zweifel, wer die Juden zu Wölfen gemacht hat: die Nazis und ihre Satrapen in den verbündeten Ländern.

Hilsenrath holt eine kleine Schreibmaschine hervor, eine "Groma", auf der er "Nacht" getippt hat. Eine andere besitzt er nicht. Alle seine Romane sind auf der "Groma" geschrieben worden. Computer? "Brauche ich nicht." Aber könnte er mit einem Computer nicht besser korrigieren? "Ich korrigiere nicht. Ich schreibe mir alles von der Leber weg, und es sitzt auf Anhieb." Die Romane nach "Nacht" entstanden in einem Höllentempo. Zehn Seiten in drei Stunden.

Mit seinem Buch "Der Nazi & der Friseur" brach Hilsenrath das nächste Tabu. Er sagt: "Ich wollte wieder über den Holocaust schreiben, aber ganz anders als in "Nacht" und da habe ich eine Satire geschrieben." Eine Satire über den KZ-Wärter Max Schulz, der sich selbst einen Massenmörder nennt und nach dem Krieg die Identität des ermordeten Juden Itzig Finkelstein annimmt. Ein Täter wird zum Opfer. Aber nicht nur das: Es geht um den Holocaust, und trotzdem muß man bei diesem Buch immer wieder lachen. Darf man das? Und darf man einen solchen Roman schreiben?

Heinrich Böll urteilte 1977 in einer Rezension in der ZEIT: "Ich habe kein fix und fertiges Urteil über dieses Buch, frage mich nicht nur, ob's 'gelungen' ist, sondern auch, ob es überhaupt 'gelingen' konnte, dieses heikle, waghalsige Unternehmen, und denke, daß es angesichts der Waghalsigkeit nicht so ganz mißlungen ist, spricht für den Autor (...)."

Beim Publikum, vor allem bei jüngeren Lesern, wurde "Der Nazi & der Friseur" ein Erfolg. Daraufhin erschien auch "Nacht" wieder in Deutschland und verkaufte sich ebenfalls gut. Kritiker verglichen Hilsenrath mit Günter Grass, damals eine Freude für ihn, heute eine Last. Denn er hat nicht aufgehört, sich an Grass zu messen, weshalb er nun nicht anders kann als enttäuscht zu sein: "Den großen Erfolg habe ich nicht gehabt." Er sagt das nicht traurig, eher kühl bilanzierend. Von selbst kommt er dann auf den Büchner-Preis zu sprechen, in Deutschland die höchste Auszeichnung für einen Schriftsteller. Hilsenrath hat ihn nicht bekommen. Er sagt: "Ich hätte ihn verdient." Als klänge ihm die eigene Geschichte nun doch zu traurig, schiebt er zwei Sätze nach: "Es ist schon gut so. Ich will mich nicht beklagen."

Immerhin gibt es nicht viele Schriftsteller, deren Gesamtauflage in die Millionen geht. Er könnte also auch zufrieden sein. Ist er es? "Ja. ja." Und gab es Momente des Glücks? Schweigen. Dann ein Satz gegen die Stille: "Mir fällt nichts ein."

Seine schönste Zeit, sagt er, seien die drei Jahre in der rumänischen Bukowina gewesen. Als Junge war er dort, von 1938 bis 1941. Vor den Nazis geflohen, lebte er in Siret, einem Städtchen, das vor allem von Juden bewohnt war. In seinem jüngsten Roman. "Jossel Wassermanns Heimkehr", hat er den Alltag im Stetl liebevoll beschrieben, die jüdische Kultur, den jüdischen Humor. Sind ihm diese Schilderungen nicht etwas zu idyllisch geraten? "Nein." Das kommt hart. Kritik mag er nicht, was sein Lektor, den er allenfalls Kommata versetzen läßt, bestätigen kann. "Ich habe geschrieben, wie es war." Es gibt keine Stetl mehr. Die schönste Welt des Edgar Hilsenrath ist dahin.

Für den jüdischen Glauben hat er nichts übrig. In der Synagoge habe er sich gelangweilt, zu kompliziert die vielen Regeln. Und an Gott glaubt er ohnehin nicht mehr. In der englischen Fassung von "Der Nazi & der Friseur" gibt er ihm eine Mitschuld am Holocaust, weil er untätig zugesehen habe. In der deutschen Ausgabe, die später erschienen ist, fehlt dieser Teil. Nun gilt für Hilsenrath: "Max Schulz war Schuld, nicht Gott. Die Menschen sind für das, was sie tun, alleine verantwortlich."

Sechs Millionen sind ermordet worden. Hilsenrath lebt, aber da sind die Jahre im Ghetto, das Lebensloch in New York, die lange Suche nach einem neuen Start. Die Max Schulzens haben ihm unendlich viel angetan. Hätten sie nicht die Stetl in der Bukowina weggewischt, lebte er vielleicht dort. So lebt er im Land der Täter, ohne daß ihn das belastet. Er sieht und schätzt, daß man sich bemüht, den Holocaust nicht zu vergessen. Aber ihn stört, was er "Denkmalskult" nennt. "Manche glauben, mit einem Denkmal sei alles abgegolten."

Den Nachfolgern von Max Schulz, den Neonazis, ist Hilsenrath nur einmal begegnet, bei einer Lesung in Kamen. Darüber hat er einen kleinen Text geschrieben, der viel sagt über den Humor des Edgar Hilsenrath. Am Schluß findet sich folgender Dialog:

"Sie brauchen keine Angst zu haben", sagte der Direktor. "Man wird Sie nicht vor der Lesung niederschlagen. Die Leute haben zwei Mark gezahlt und wollen auf ihre Kosten kommen." (...) "Dann bin ich beruhigt", sagte ich. "Wann wird man mich niederschlagen?" "Erst nach der Lesung", sagte der Direktor.

 

Quelle:

Die Zeit 29.03.1996