Erhaben, wie ein kleiner, stolzer König vor seinem Volk – so sitzt Edgar
Hilsenrath vor dem zahlreich erschienenen Publikum in Wolff’s Bücherei in
Berlin-Friedenau, einem der Orte, wo seine literarische Karriere in den
siebziger Jahren begann. Vorgestellt wird sein bekanntester Roman, Der Nazi und
der Friseur, die grausig-groteske Schelmengeschichte des Max Schulz, arisch,
Sohn der Minna Schulz, der aus Angst vor Verfolgung nach dem Krieg die Identität
seines von den Nazis umgebrachten Schulfreundes Itzig Finkelstein annimmt.
Beschnitten und mit KZ-Tätowierung am Unterarm, ergaunert er auf dem
Schwarzmarkt dank des im KZ erbeuteten Sacks voll Goldzähnen das Geld, mit
dessen Hilfe er nach Palästina auswandert, wo er im Untergrund gegen die
Engländer kämpft und sich als Friseur eine neue Existenz aufbaut.
Der Verleger Volker Dittrich, der jetzt den Roman als dritten Band einer
Werkausgabe veröffentlicht hat, liest einige Szenen: den derb-deftigen Anfang,
in dem die Mutter von Max vorgestellt wird, eine neuzeitliche Marketenderin
– mindestens sieben Männer kommen als Vater von Max in Betracht –,
und eine der Schlüsselszenen im ersten Drittel des Romans, in der Maxens
Transformation vom unschuldigen Knaben zum späteren NS-Schergen beginnt.
Während sein Verleger liest, schaut der Dichter aufmerksam in die Gesichter der
ihm gegenübersitzenden Zuhörer. Er hat noch immer die hellwachen, zugleich
verschmitzt und skeptisch blickenden Augen. Die Konzentration der Zuhörer
registriert er mit Genugtuung. Aber glimmt da nicht auch Schalk auf, ein
verstecktes Schmunzeln in Erwartung des einen oder anderen Zeichens der
Empörung? Edgar Hilsenrath ist es gewohnt, wegen seines spöttischen, makabren
Umgangs mit jüdischen Schicksalen verkannt, angegriffen oder auch ignoriert zu
werden. Er provoziert und bricht Tabus mit der Miene des unschuldigen Knaben.
Pathos, gar Belehrung oder Indoktrination liegen ihm fern. Die Klarheit, die
Lakonie und Direktheit seiner Sprache sind für jedermann verständlich, der
verstehen will. Das Spektrum seiner Ausdrucksmöglichkeiten reicht von sanfter
Zärtlichkeit über burleske Drastik bis zum schwärzesten Humor. Er polarisiert,
weckt Emotionen und regt zum Nachdenken an, indem er den Leser in eine heilsame
Ambivalenz stürzt: Er evoziert ein Lachen, das in der Kehle stecken bleibt, und
gleichzeitig berstend herausbrechen will.
Die Editionsgeschichte des Romans ist symptomatisch für das geistige Klima der
Bundesrepublik und liefert einen Beweis für die bis weit in die achtziger Jahre
bestehenden Berührungsängste. Das Ende der sechziger Jahre geschriebene Buch
erschien 1971 zunächst in englischer Sprache im amerikanischen Verlag Doubleday,
dann in Italien, England und Frankreich. In Deutschland wurde er von 25 Verlagen
abgelehnt. Hilsenrath, der seit 1951 nach ruheloser Odyssee in New York gelebt
hatte, war inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt und ließ sich in Berlin
nieder. Über KP Herbach, den in diesem Jahr verstorbenen Gründer des
Buchhändlerkellers und tatkräftigen Mentor für Berliner Schriftsteller, lernte
er Helmut Braun kennen, der den Roman 1977 in seinem Verlag herausbrachte. Wegen
des Erfolges – drei Auflagen von je zehntausend Stück waren schnell
vergriffen – publizierte der Verlag den ersten Roman: Nacht, ein
autobiografischer Bericht aus dem KZ (Hilsenrath war von 1941 bis 1945 im
ukrainischen Ghetto Mogilev-Podolski inhaftiert), geschrieben in den frühen New
Yorker Jahren. Er war 1964 bei Kindler herausgekommen und trotz positiver
Kritiken nach kurzer Zeit zurückgezogen worden – mit der Begründung, dass
»unter der bundesdeutschen Bevölkerung ein verkappt antisemitischer Trend«
bestehe. Der Literarische Verlag Braun musste schließlich Konkurs anmelden.
Hilsenrath hält Nacht neben dem Märchen vom letzten Gedanken,
für den er 1989 den Alfred-Döblin-Preis erhielt, für seinen besten Roman.
Grausamkeit und Zärtlichkeit, abstruser Witz und blutiger Ernst
Vor 25 Jahren, als Edgar Hilsenrath zum ersten Mal in Wolff’s Bücherei aus
Der Nazi und der Friseur gelesen hatte, waren am nächsten Morgen die
Schaufensterscheiben des Ladens mit Hakenkreuzen beschmiert. Trotz oder
vielleicht gerade wegen solcher Ereignisse ist Edgar Hilsenrath in Deutschland
geblieben und hat weiter gegen das Vergessen angeschrieben. Ob es sich um
autobiografisch inspirierte Romane wie die Geständnisse des arbeitslosen, im New
York der fünfziger Jahre herumstreunenden Bronsky (Fuck America) oder
die Aufarbeitung der Erfahrungen des Schriftstellers in der Bundesrepublik
(Zibulsky oder Antenne im Bauch) handelt, um die Aufzeichnungen der
Leidensgeschichte des armenischen Volkes (Das Märchen vom letzten
Gedanken) oder um den tragischen, bisweilen auch burlesken Lebenskampf der
bukowinischen Juden des Schtetls Pohodna, aufgezeichnet von einem von ihnen
(Jossel Wassermanns Heimkehr)– Hilsenrath verbindet Grausamkeit
und Zärtlichkeit, abstrusen Witz und blutigen Ernst, Liebe und Hass, Horror und
Lebensfreude in literarischen Meisterwerken, die von beunruhigender Aktualität
sind. Für sein Gesamtwerk wurde der Dichter in diesem Jahr mit dem Lion-
Feuchtwanger-Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste gekrönt.
Das, so sagt er, habe ihn erstaunt und erfülle ihn mit Stolz. Zwei Schlaganfälle
und der plötzliche Tod seiner Frau Marianne im Januar dieses Jahres haben ihn,
der in zwei Jahren achtzig wird, gebrechlich gemacht, aber mit Widerstandskraft
und Lebenswillen trotzt er Alter und Krankheit.
Heinrich Böll schrieb 1977 in seiner Rezension von Der Nazi und der Friseur
in der ZEIT: »Schweigen wir von Hitler, den man mal eine Weile
vergessen sollte, um sich der Nazis erinnern zu können.« Auf heute bezogen,
hieße das, auch und nicht zuletzt für junge Menschen: Vergesst das
melodramatische Machwerk Der Untergang und lest stattdessen Der
Nazi und der Friseur.
Quelle:
Die ZEIT 9.12.2004 Nr.51