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Die ZEIT
Angst vor der Wirklichkeit
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Die ZEIT
Der kleine König
Von Cornelia Staudacher


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ehrt Edgar Hilsenrath
mit einer Ausstellung


Die Akademie der Künste
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Laudatio auf den
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Laudatio anlässlich
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Thomas Kraft (Hrsg.)
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Der Grenzgänger
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wurde siebzig
Jahre alt


Auch Bücher
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Leben im Land
der Täter:
Der Schriftsteller
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"Verliebt in die deutsche Sprache - Die Odyssee des Edgar Hilsenrath"

Wanderausstellung des
Edgar-Hilsenrath-Archivs
der Akademie der Künste
Berlin

15. Mai bis 14. Juli 2006
HS Fulda Transfer
Fulda

1. bis 28. August 2006
Gerhart-Hauptmann-Haus
Düsseldorf






Die ZEIT

Der kleine König

Eine Wiederbegegnung mit Edgar Hilsenrath und seinem grausig-grotesken Roman »Der Nazi und der Friseur«
Von Cornelia Staudacher

Erhaben, wie ein kleiner, stolzer König vor seinem Volk – so sitzt Edgar Hilsenrath vor dem zahlreich erschienenen Publikum in Wolff’s Bücherei in Berlin-Friedenau, einem der Orte, wo seine literarische Karriere in den siebziger Jahren begann. Vorgestellt wird sein bekanntester Roman, Der Nazi und der Friseur, die grausig-groteske Schelmengeschichte des Max Schulz, arisch, Sohn der Minna Schulz, der aus Angst vor Verfolgung nach dem Krieg die Identität seines von den Nazis umgebrachten Schulfreundes Itzig Finkelstein annimmt. Beschnitten und mit KZ-Tätowierung am Unterarm, ergaunert er auf dem Schwarzmarkt dank des im KZ erbeuteten Sacks voll Goldzähnen das Geld, mit dessen Hilfe er nach Palästina auswandert, wo er im Untergrund gegen die Engländer kämpft und sich als Friseur eine neue Existenz aufbaut.

Der Verleger Volker Dittrich, der jetzt den Roman als dritten Band einer Werkausgabe veröffentlicht hat, liest einige Szenen: den derb-deftigen Anfang, in dem die Mutter von Max vorgestellt wird, eine neuzeitliche Marketenderin – mindestens sieben Männer kommen als Vater von Max in Betracht –, und eine der Schlüsselszenen im ersten Drittel des Romans, in der Maxens Transformation vom unschuldigen Knaben zum späteren NS-Schergen beginnt.

Während sein Verleger liest, schaut der Dichter aufmerksam in die Gesichter der ihm gegenübersitzenden Zuhörer. Er hat noch immer die hellwachen, zugleich verschmitzt und skeptisch blickenden Augen. Die Konzentration der Zuhörer registriert er mit Genugtuung. Aber glimmt da nicht auch Schalk auf, ein verstecktes Schmunzeln in Erwartung des einen oder anderen Zeichens der Empörung? Edgar Hilsenrath ist es gewohnt, wegen seines spöttischen, makabren Umgangs mit jüdischen Schicksalen verkannt, angegriffen oder auch ignoriert zu werden. Er provoziert und bricht Tabus mit der Miene des unschuldigen Knaben. Pathos, gar Belehrung oder Indoktrination liegen ihm fern. Die Klarheit, die Lakonie und Direktheit seiner Sprache sind für jedermann verständlich, der verstehen will. Das Spektrum seiner Ausdrucksmöglichkeiten reicht von sanfter Zärtlichkeit über burleske Drastik bis zum schwärzesten Humor. Er polarisiert, weckt Emotionen und regt zum Nachdenken an, indem er den Leser in eine heilsame Ambivalenz stürzt: Er evoziert ein Lachen, das in der Kehle stecken bleibt, und gleichzeitig berstend herausbrechen will.

Die Editionsgeschichte des Romans ist symptomatisch für das geistige Klima der Bundesrepublik und liefert einen Beweis für die bis weit in die achtziger Jahre bestehenden Berührungsängste. Das Ende der sechziger Jahre geschriebene Buch erschien 1971 zunächst in englischer Sprache im amerikanischen Verlag Doubleday, dann in Italien, England und Frankreich. In Deutschland wurde er von 25 Verlagen abgelehnt. Hilsenrath, der seit 1951 nach ruheloser Odyssee in New York gelebt hatte, war inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt und ließ sich in Berlin nieder. Über KP Herbach, den in diesem Jahr verstorbenen Gründer des Buchhändlerkellers und tatkräftigen Mentor für Berliner Schriftsteller, lernte er Helmut Braun kennen, der den Roman 1977 in seinem Verlag herausbrachte. Wegen des Erfolges – drei Auflagen von je zehntausend Stück waren schnell vergriffen – publizierte der Verlag den ersten Roman: Nacht, ein autobiografischer Bericht aus dem KZ (Hilsenrath war von 1941 bis 1945 im ukrainischen Ghetto Mogilev-Podolski inhaftiert), geschrieben in den frühen New Yorker Jahren. Er war 1964 bei Kindler herausgekommen und trotz positiver Kritiken nach kurzer Zeit zurückgezogen worden – mit der Begründung, dass »unter der bundesdeutschen Bevölkerung ein verkappt antisemitischer Trend« bestehe. Der Literarische Verlag Braun musste schließlich Konkurs anmelden. Hilsenrath hält Nacht neben dem Märchen vom letzten Gedanken, für den er 1989 den Alfred-Döblin-Preis erhielt, für seinen besten Roman.

Grausamkeit und Zärtlichkeit, abstruser Witz und blutiger Ernst

Vor 25 Jahren, als Edgar Hilsenrath zum ersten Mal in Wolff’s Bücherei aus Der Nazi und der Friseur gelesen hatte, waren am nächsten Morgen die Schaufensterscheiben des Ladens mit Hakenkreuzen beschmiert. Trotz oder vielleicht gerade wegen solcher Ereignisse ist Edgar Hilsenrath in Deutschland geblieben und hat weiter gegen das Vergessen angeschrieben. Ob es sich um autobiografisch inspirierte Romane wie die Geständnisse des arbeitslosen, im New York der fünfziger Jahre herumstreunenden Bronsky (Fuck America) oder die Aufarbeitung der Erfahrungen des Schriftstellers in der Bundesrepublik (Zibulsky oder Antenne im Bauch) handelt, um die Aufzeichnungen der Leidensgeschichte des armenischen Volkes (Das Märchen vom letzten Gedanken) oder um den tragischen, bisweilen auch burlesken Lebenskampf der bukowinischen Juden des Schtetls Pohodna, aufgezeichnet von einem von ihnen (Jossel Wassermanns Heimkehr)– Hilsenrath verbindet Grausamkeit und Zärtlichkeit, abstrusen Witz und blutigen Ernst, Liebe und Hass, Horror und Lebensfreude in literarischen Meisterwerken, die von beunruhigender Aktualität sind. Für sein Gesamtwerk wurde der Dichter in diesem Jahr mit dem Lion- Feuchtwanger-Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste gekrönt. Das, so sagt er, habe ihn erstaunt und erfülle ihn mit Stolz. Zwei Schlaganfälle und der plötzliche Tod seiner Frau Marianne im Januar dieses Jahres haben ihn, der in zwei Jahren achtzig wird, gebrechlich gemacht, aber mit Widerstandskraft und Lebenswillen trotzt er Alter und Krankheit.

Heinrich Böll schrieb 1977 in seiner Rezension von Der Nazi und der Friseur in der ZEIT: »Schweigen wir von Hitler, den man mal eine Weile vergessen sollte, um sich der Nazis erinnern zu können.« Auf heute bezogen, hieße das, auch und nicht zuletzt für junge Menschen: Vergesst das melodramatische Machwerk Der Untergang und lest stattdessen Der Nazi und der Friseur.

 

Quelle:

Die ZEIT 9.12.2004 Nr.51