Erich Maria Remarque war mein geistiger Vater und großes Vorbild. Als ich
vierzehn war, kannte ich Remarque noch nicht. Damals begeisterte mich Hugo
Bettauer, ein Wiener Jude und Bestsellerautor, der Verfasser des berühmten
Romans "Die Stadt ohne Juden". In diesen Alter begann ich meinen
ersten Roman zu schreiben, eigentlich war es nur eine Nachahmung des Bettauer-
Romans "Das blaue Mal". "Das blaue Mal" war die Geschichte
eines weißen Negers. Er war Mulatte, und nur an den blauen Halbmonden
seiner Fingernägel erkannte man seine Herkunft. Es war ein
antirassistisches Buch, das mich damals begeisterte. Ich hatte meinen Roman nur
halb fertig geschrieben und dann während des Kriegs und der Deportation
verloren. Als ich von der Deportation zurückkam, beschloß ich,
Schriftsteller zu werden. Ich wollte mit einem Roman über ein
jüdisches Ghetto beginnen. Ich war achtzehn und hatte noch keinen eigenen
Stil. Ich suchte Vorbilder. Eine Zeit lang schwärmte ich für Stefan
Zweig, dann für Rilke, schließlich für Maxim Gorki. Ich
versuchte deren Stil nachzuahmen und scheiterte. Nach dem Krieg lebte ich in
Haifa. Nächtelang saß ich auf der Herzlstraße in einem Café und
arbeitete an den ersten Kapiteln meines Romans. Ich erinnere mich, das ich jede
Nacht eine halbe Seite schrieb, sie am nächsten Tag nochmals durchlas und
alles Geschriebene wieder durchstrich. Ich kam nicht vorwärts und das
deprimierte mich. Meine Depressionen wurden schlimmer, und ich wurde ernstlich
krank. Dann fuhr ich nach Europa zurück, und zwar nach Frankreich, wo mein
Vater lebte. Er hatte den Krieg in Lyon überlebt und war glücklich,
dass ich zu ihm kam. Inzwischen waren auch meine Mutter und mein Bruder aus dem
Holocaust aufgetaucht und kamen ebenfalls nach Lyon.
Um auf mein Schreiben zurückzukommen: Ich hatte die Schriftstellerei ganz
aufgeben und war damit beschäftigt, meine Depressionen zu pflegen. Im
Sommer 1950, ich war gerade vierundzwanzig, traf ich einen deutschjüdischen
Emigranten. Er gab mir Erich Maria Remarques "Arc de Triomphe".
"Das ist der Autor von Im Westen nichts Neues", sagte er. Lesen Sie
mal den "Arc de Triomphe". Ich las das Buch und war begeistert wie nie
zuvor von einen Roman. Hier war jemand, der wirklich schreiben konnte. Alles
stimmte, die Handlung, die genau eingefangene Atmosphäre, die Dialoge und
die erzählerische Spannung. Ich war nie berauscht. Plötzlich hatte ich
wieder Lust, selbst zu schreiben, und dabei dachte ich an meinem Ghettoroman,
den ich angefangen hatte. Am Abend ging in ein Bistro. Die Schreiblust
überkam mich, und ich bat den Kellner um Papier und Bleistift und ein Glas
Rotwein. Ich dachte an Remarque und seinen "Arc de Triomphe", und
dabei überlief mich ein heißer Schauer. Remarques Held hieß
Ravic. Ich beschloss, auch meinen Helden Ravic zu nennen. Die erste Szene des
Romans entwarf ich in jenem Bistro. Die Szene spielte in einem jüdischen
Ghetto, aber ich konstruierte wie Remarque. In seinem Roman traf Ravic nachts
auf einer Seinebrücke eine verzweifelte Frau. Es regnete und die Frau
schien sich ins Wasser stürzen zu wollen. Ravic hielt sie fest. Er deutete
auf den nächsten Fluss. "Zu früh", sagte Ravic, "und zu
kalt im November".
Auch in meinem Roman trifft Ravic eine verzweifelte Frau auf der Straße.
Die Abenddämmerung ist hereingebrochen, und es regnet. Die Frau will sich
in den Straßenschlamm stürzen, aber Ravic hält sie fest. Er sagt
etwas ähnliches wie "Arc de Triomphe": "Dummheiten",
sagt er und zeigt auf den Straßenschlamm. "Wenn sich ein jeder
einfach da hineinschmeißen würde, wo käme man da hin.
Reißen Sie sich doch zusammen". Mein Ravic bietet ihr eine Zigarette
an von seinem schwarzen Ersatztabak. In Remarpues Roman bietet Ravic der Frau
algerische Zigaretten an, auch schwarze. Der Gesichtsausdruck der Frau in meiner
Szene ist ausdruckslos wie derjenige der Frau auf der Seinebrücke.
Remarques Ravic will die Frau gerne loswerden, aber sie klebt wie eine Klette an
ihm. Schließlich nimmt er sie mit in sein Hotel. Auch in meiner
Ghettoszene kann Ravic die Frau nicht loswerden, und schließlich nimmt er
sie mit ins Massenquartier.
Ich schrieb wie besessen in jenem Bistro und schaffte in zwei Stunden
dreißig Seiten. Den Namen Ravic änderte ich und nannte meinen Helden
Ranek. Man sieht die ähnlichkeit. Es war der Anfang meines
Erstlingsprogramms "Nacht". Mit diesem Buch bin ich Schriftsteller
geworden. Allerdings verdrängte ich Remarque nach dem zweiten Kapitel und
schrieb den Rest des Buchs ohne irgendwelche Vorbilder. Es wurde dann doch etwas
ganz Eigenes. Trotzdem muss ich sagen, dass ich es Remarque zu verdanken habe,
dass ich Schriftsteller geworden bin. Auch die Depressionen waren von jenem Tag
im Bistro wie weggeblasen; ich war wieder frei.
Später, als mein Buch fertig war, rief ich Remarques amerikanischen
Verleger an und bat um seine Adresse. Ich wohnte damals in New York. Beim Verlag
sagte man mir, dass sie die Adresse nicht weitergeben dürfen, aber ich
sollte mein Manuskript an den Verlag adressieren, sie würden es
weiterleiten. Die Dame am Telefon meinte aber, dass es zwecklos sei, Remarque
irgendwas zu schicken, da er alle unverlangten Manuskripte ungeöffnet
wieder zurückschicke. Das entmutigte mich. Ich habe Remarque mein
Manuskript nie geschickt. Noch heute bedauere ich, dass ich ihn nie
persönlich getroffen habe und er nie was von mir gelesen hat.
Am 14. Juni 1867 wird Peter Franz Remark geboren, der Vater von Erich Maria
Remarque . Peter Franz Remark zieht im Mai 1895 von Kaiserswerth nach
Osnabrück in die Lindenstraße. Peter Franz ist Buchdrucker, ein
wortkarger, zurückhaltender Mann. Am 18. Mai 1895 heiratet er am 21
November 1871 in Kartenberg geborene Anna Maria Stallknecht. Anna Maria ist
lebhaft und freundlich, liebt Musik, was sie auf ihren Sohn überträgt.
Erich Maria Remarque heißt damals noch Erich Paul Remark.
Geboren wird Erich Paul Remark am 22. Juni 1898, nachmittags um vier Uhr in
Osnabrück, in der Provincial-Entbindungsanstalt, dann geht es zurück
in die nun in der Jahnstraße gelegene Wohnung. Zwei Jahre später
Umzug in den Pappelgraben. Die Schulzeit beginnt in der Domschule , vier Jahre
später die Johannesschule. Kein Gymnasium sonder n ebenfalls eine
Volksschule. Remarque liebt Musik. Als Zwanzigjähriger notiert er in sein
Tagebuch: "Musik , die einzige Löserin und Trösterin." Am
21. November 1916 wird Remarque Soldat.
Remarque hat einen zwei Jahre älteren Bruder , der im Alter von fünf
Jahren stirbt, außerdem zwei Schwestern. Eine, Elfriede, wird später
wegen antnazistischer Bemerkungen von den Nazis mit dem Fallbeil hingerichtet.
Remarque trägt nach dem Krieg eine Leutnantsuniform, obwohl er nie Leutnant
war, und zeigt sich mit einem Schäferhund. Den zweiten Vornamen Paul
ersetzt er durch Maria, wahrscheinlich nach dem Namen der Mutter oder des von
ihm besonders verehrten Rainer Maria Rilke. Das "k" seines
Familiennamen streicht er ebenfalls und ersetzt es durch ein "que",
was vielleicht legitim ist, da er französische Vorfahren hat. Er kauft sich
einen Adelstitel und nennt sich Freiherr von Buchwald. Er trägt ein
Monokel. Starkes Geltungsbedürfnis. Remarque schreibt in den zwanziger
Jahren drei Romane, die er später als Jugendsünden abtut. Er arbeitet
in den frühen zwanziger Jahren als Journalist und Werbetexter für eine
Autoreifenfirma. Erst 1927 beginnt er mit der Niederschrift "Im Westen
nichts Neues". Er reicht das Manuskript zuerst bei S. Fischer ein, der aber
ablehnt - der größte Fehler , den der Verlag jemals gemacht hat. Noch
drei anderen Verlagen bietet Remarque das Manuskript an, die ebenfalls abwinken.
Schließlich versucht er es bei Ullstein. Ullstein ist anfangs gar nicht
überzeugt und lässt Remarque eine Vertragsklausel unterschreiben, in
der er sich verpflichtet, im Falle eines Verlustgeschäfts die Schulden bei
Ullstein abzuarbeiten, indem er journalistische Beiträge für die
Ullsteinblätter schreibt. Remarque unterzeichnet. Wider erwarten wird
"Im Westen nichts Neues" ein Verkaufserfolg. Nicht nur das. Das Buch
wird zum größten Erfolg in der Geschichte der deutschen Literatur.
Ullstein verkauft in den ersten fünf Monaten 200.000 Exemplare, 1930
bereits über eine Million. Auch im Ausland kommt das Buch gut an und
erzielt Millionenauflagen. In Amerika steht es auf der Bestsellerliste der
"New York Times". Das Buch wird in Amerika auch verfilmt. Als der Film
1930 in die deutschen Kinos kommt, gibt es einen Skandal. Die Nazis lassen den
Film boykottieren. Goebbels, der damalige Gauleiter von Berlin, schickt seine
Schlägertruppe in sämtliche Kinos. Sie werfen Stinkbomben und lassen
weiße Mäuse auf das Publikum los. Schließlich wird der Film
verboten. Der Skandal um den Film steigert jedoch die Auflage des Buchs. Kein
deutscher Autor ist jemals so erfolgreich gewesen, aber auch so vehement
angegriffen worden wie Remarque. Auch die Presse greift ihn an. "Im Westen
nichts Neues" wird als leichte Kost, der Stil Remarques als unliterarsich
verdammt, der Autor als Nestbeschmutzer diffamiert, der die Ehre des deutschen
Heeres beleidigte. Als Hitler die Macht in Deutschland ergreift, weiß
Remarque, was er von den Nazis zu erwarten hat: Verhaftung und
Konzentrationslager. Am 30. Januar 19303 verlässt Remarque Deutschland und
fährt mit seinem Privatauto direkt in die Schweiz. Er hat kurz zuvor in
Porto Ronco bei Ascona am Lago Maggiore eine Villa gekauft und diese mit
kostbaren Teppichen und Gemälden ausgeschmückt. Dorthin zieht sich
Remarque zurück. 1925 heiratet er Ilse Jutta Zambona. Sie soll
bildhübsch gewesen sein. Die Ehe hält nicht lange und wird bald wieder
geschieden. Remarque heiratet Ilse Jutta Zambona ein zweites Mal, als ihr in den
dreißiger Jahren die Ausweisung aus der Schweiz droht und er sie davor
bewahren will, nach Hitlerdeutschland ausgewiesen zu werden. Remarque emigriert
Ende der dreißiger Jahre nach Amerika. Er zieht nach Hollywood und
führt dort ein Leben mit viel Alkohol, Frauen und Parties. Von
Selbstzweifeln heimgesucht, notiert er in sein Tagebuch: "Ganz wenig
angefangen zu arbeiten. Thema vielleicht zu dünn (Arc de Triomophe). Es
hilft nichts. Man muß den Druck von außen den Druck von innen
entgegensetzten. Eine Welt wie die andere. Aber ist es für mich nicht schon
zuspät? Endlos viel versäumt. Viele Spannungen zerflossen. Im Brei von
Faulheit, Passivität und Abseitsstehen. Fast endlos sind die Affären
mit schönen Frauen: Greta Garbo, Marlene Dietrich, Lupe Valez, die in
Hollywood Selbstmord beginnt. Natasha Paley, die Nichte des russischen Zaren
Alexander der III., Mannequin und Schauspielerin. Zwischen 1929 und 1933 hat er
noch zwei wichtige Romane geschrieben: "Der Weg zurück" und
"Drei Kameraden". Später folgen "Liebe deinen
Nächsten", "Arc de Triomphe", "Der Funke Leben",
"Zeit zu leben und Zeit zu sterben", "Nacht von Lissabon",
"Der schwarze Obelisk", auch Trivialroman über einen Rennfahrer,
der von Hollywood verfilmt wurde: "Der Himmel kennt keine
Günstlinge". Insgesamt hat Remarque vierzehn Romane geschrieben, den
letzten, "Das gelobte Land", aber nicht vollendet. Remarque heiratet
ein drittes Mal, die Schauspielerin Paulette Goddard. Diese Altersehe sollte
seine glücklichste sein. 1963 erleidet er einen Herzanfall. Dann folgen in
Abständen weitere Herzanfälle. Er hat sich mit Paulette Goddard ganz
in sein Haus am Lago Maggiore zurückgezogen. Er stirbt 1970 in einer Klinik
in Locarno. Niemand von der Prominenz erscheint zum Begräbnis. Es sind fast
ausschließlich die Leute aus dem Dorf anwesend, die kleinen Handwerker und
Verkäufer.
1989 wurde in Osnabrück das Reamarque-Archiv gegründet. Unter der
Leitung von Tilmann Westphalen und dem Herausgeber der seit elf Jahren
erscheinenden Remarque-Jahrbücher, Thomas F. Schneider, entstand eine
Forschungsstätte, die für jeden, der sich mit dem Mann und seinen
Büchern beschäftigt, unverzichtbar geworden ist. Inzwischen ist in
Osnabrück die weltweit wichtigste Remarque- Archivsammlung entstanden.
Tausende von Dokumenten wurden gesammelt.
Erich Maria Remarque ist von den deutschen Kritikern und Germanisten völlig
vernachlässigt worden. Für mich sind seine Bücher das Beste, was
die deutsche Literatur hervorgebracht hat.