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Von Edgar Hilsenrath

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Über Edgar Hilsenrath

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Edgar Hilsenrath auf
WDR3 erinnert sich
von Felix Kuballa


Jossel Wassermanns
Heimkehr: Rezitation
& Klezmermusik


Lesung vom
20. Oktober 1999
an der HS Fulda


Interview mit
Edgar Hilsenrath
von Ken Kubota


Interview mit
Edgar Hilsenrath
von Thomas Feibel


Gespräch mit
Thomas Kraft und
Peter Stenberg




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"Verliebt in die deutsche Sprache - Die Odyssee des Edgar Hilsenrath"

Wanderausstellung des
Edgar-Hilsenrath-Archivs
der Akademie der Künste
Berlin

15. Mai bis 14. Juli 2006
HS Fulda Transfer
Fulda

1. bis 28. August 2006
Gerhart-Hauptmann-Haus
Düsseldorf






Edgar Hilsenrath erzählt, wie er das Ende des 2. Weltkriegs erlebt hatte

»Mein Kriegsende«

Am 15. und 27. April 2005, im WDR Fernsehen
Redaktion: Felix Kuballa

Das Manuskript zur Sendung:

Als Romanautor bekannt wird Edgar Hilsenrath erst in den 70er Jahren - aber gleich von den Kritikern hoch gelobt. Geboren 1926 in Leipzig, wächst er in einer bürgerlichen Kaufmannsfamilie auf. Gut behütet. Als einziges jüdisches Kind in der Klasse wird er zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe. Der Vater schickt ihn 1938 mit Mutter und Bruder zu den Großeltern nach Rumänien. Das Exil wird für Edgar zur Falle. Die rumänische Regierung paktiert mit den Nazis. Der 17-Jährige wird in ein jüdisches Ghetto in der Ukraine deportiert.

Edgar Hilsenrath erinnert sich:

Edgar Hilsenrath im WDR Fernsehen

Das Problem war, die Stadt war vollkommen zerstört. Es gab keine Häuser mehr, alles Ruinen. Wir kampierten in den Ruinen und fanden aber dann mit Hilfe eines Bekannten, der befreundet war mit einem rumänischen Polizeikommandanten, der einen Brief, ein Schreiben von ihm kriegte, mit der Erlaubnis, eine Schule zu requirieren für sich und seine Leute. Wir nahmen diese Schule in Besitz. Das war ne alte russische Schule und dort brachte er seine Freunde hin, darunter waren wir auch, meine Familie. Das war unsere Rettung, denn die Schule hatte vier Wände und ein Dach und war sogar Ofen drin zum Heizen. Und wir wurden dort einquartiert. Es kamen hunderttausende Juden in das Ghetto und bald herrschte ein Chaos. Es gab nichts zu Essen. Die Rumänen ließen kein Essen rein und wir durften nur zehn Mark mitnehmen. Die Leute verhungerten. Und es lagen schon in den nächsten Wochen Tote auf der Straße.

Also wir waren unter rumänischer Verwaltung. Die Rumänen machten Jagd auf Juden und deportierten sie weiten nach dem Osten. Die nahmen am Anfang nur die Obdachlosen mit. Ich habe das in meinem Roman "Nacht" beschrieben. Die Leute wurden aus den Häusern gepeitscht und zum Bahnhof und zum Bug transportiert. Am Bug... der Bug war die Grenze zwischen den... Dnjestr und Bug war die Grenze des rumänischen Verwaltungsgebiets. Auf der anderen Seite vom Bug stand deutsche SS. Die Rumänen wollten ihre Juden loswerden und deportierten tausende über den Bug zur SS. Und die SS hat die Leute gleich erschossen.

Jede Nacht Razzien. Man hörte Schreien und Heulen. Und die Leute wurden zum Bahnhof gepeitscht. Sie wussten, dass sie umgebracht wurden und heulten und schrieen und das ging jede Nacht. Frühmorgens lagen schon die Toten auf der Straße, die vom Hunger gestorben waren oder vom Typhus. Das war ein Bild, das sich mir sehr eingeprägt hatte.

Im März 1944 hat sich die Front verschoben. Und die Deutschen und die Rumänen haben sich zurückgezogen und die Russen sind einmarschiert. Für mich war das das Ende des Krieges, war im März `44, also ein Jahr früher, war für uns der Krieg zu Ende. Die Russen kamen mit Panzern und Lastwagen und Pferdewagen und besetzten die Stadt und gingen dann weiter über den Dnjestr und drangen in Rumänien ein. Paar Wochen später wurde Chernowitz befreit von den Russen und auch unsere kleine Stadt Seret.

Ich beschloss damals, nach Hause wieder zurück zu gehen, das heißt nach Seret und ging zum Fluss runter. Und wir lagerten am Fluss mit einigen Freunden von mir und da kam ein russisches Boot mit Soldaten. Und die gaben mir Wodka und die brachten uns über den Fluss. Und wir gingen auf der anderen Seite zu Fuß dann bis Chernowitz, waren ungefähr 150 Kilometer. Unterwegs schliefen wir bei Bauern. Wir hatten Glück, die Russen haben uns nicht belästigt. Wir waren Flüchtlinge, die nach Hause gingen. Die Russen haben uns nichts getan.

Ich kam in Chernowitz an, da hatte ich eine Tante, bei der ich wohnte. Eines Morgens um sechs Uhr früh pochte jemand an die Tür. Ich machte auf, da stand ein russischer Soldat und sagt, ich wäre verhaftet. Warum weiß ich nicht. Ich war damals 18 Jahre alt. Ich folgte dem Soldaten und wir gingen zum Kommandantur. Dort waren bereits Hunderte von Leuten, die verhaftet wurden. Und ich erfuhr später, dass die Russen Arbeiter brauchten im Gebiet von Donbass in den Kohlegruben. Ich war dort einen Tag in diesem... Riesensaal mit allen anderen Verhafteten. Und dann war ein Appell. Da war ein Mann, der hieß David Hildsenrath, genau wie mein Vater, mein Vater hieß auch David Hilsenrath. Es war aber nicht mein Vater, sondern einer der zufällig so hieß. Ich ging zu ihm und sagte: "Wissen Sie, Sie heißen wie mein Vater." Und da stellte sich raus, ja, er stammt aus Kolomea. Meine Großmutter stammte aus Kolomea und dass es ein Cousin war von mir. Er konnte gut russisch und sagte mir: "Wir werden deine Papiere fälschen. Wir machen aus der acht eine sechs, ein bisschen wegradieren von der Tinte und wir machen dich 16 Jahre." - Das machte er mit ein bisschen Tinte und Tusche und dann ging er zum Kommandanten und sagte: "Hier, der Junge ist erst 16 Jahre. Lassen sie ihn nach Hause gehen."

Ich ging dann im Herbst 44 zu Fuß nach Bukarest, das heißt, teilweise mit dem Pferdewagen, teilweise zu Fuß. Und kam im September `44 in Bukarest an. Ich Bukarest hatte ich einen Bekannten, der war Führer in der zionistischen Bewegung. Der hieß Izu Herzig. Ich ging zu ihn und sagte: "Du, ich komme gerade aus Seret und brauche Hilfe." Es sagte: "Pass auf, wir schicken Leute nach Palästina. Wenn du mitfahren willst, ich bringe dich in einem Transport unter." Damit war ich natürlich einverstanden. Und wir stellten einen Transport zusammen, die illegal nach Palästina fuhren. Wir bekamen falsche Pässe von toten Juden und stellten Familien zusammen, bekamen neue Mutter und neuen Vater und Brüder und Schwestern.

Also, wir fuhren mit dem Zug über die rumänische Grenze nach Bulgarien. Wir schafften es bis Starasagora. Das ist eine bulgarische Kleinstadt. Da stoppten uns die Russen und holten uns aus dem Zug und verhafteten uns, weil wir illegal waren. Wir hatten keine Papiere und brachten uns in einer Schule unter, wo wir interniert waren. Sie taten uns aber nichts. Wir mussten dort bleiben. Wir durften nicht rausgehen, konnten dann später in die Stadt gehen, aber durften die Stadt nicht verlassen. Und von der jüdischen Gemeinde wurde dann Geld gesammelt für uns und die brachten uns Essen. Und es kamen auch Leute von der jüdischen Gemeinde und luden uns zum Essen ein. Und... es war eigentlich nicht schlecht. Dann kam Ben Gurion persönlich nach Sofia und hat uns... hat mit den Russen verhandelt und hat uns... hat uns rausgeholt. D. h., wir durften dann weiterreisen. Die Russen hatten nichts dagegen, dass wir weiter reisten.

Und wir reisten dann in die Türkei. Istanbul 1944 war ganz anders als heute. Da waren wenig Autos, war ne Stadt, meistens Pferdewagen und Fiaker sah man und wunderschön mit Moscheen und... Wir guckten uns Istanbul an und wurden dann mit einer Fähre über den Bosporus geschifft und dort wartete die Bagdad-Bahn nach der anderen Seite vom Bosporus, mit der wir dann durch Syrien und Libanon bis Palästina fuhren. Ich schrieb im Zug meine ersten Novellen.

Die Reise dauerte ziemlich lange, wochenlang. Unterwegs schliefen wir meistens in irgendwelchen Dörfern es ging lange nicht weiter. Wir schliefen im Zug. Wir kamen dann eines Tages in Palästina an. Ein großer Jubel im Zug, als wir das heilige Land sahen und die fingen an, zu singen. Und die Leute waren alle glücklich. Als wir über die Grenze fuhren, kamen kleine Araber- Jungen und verkauften uns Orangen. Wir hatten kein Geld, aber wir gaben ihm, was wir hatten, was weiß ich, Uhren und irgendwelche anderen Sachen. Und ich aß damals meine ersten Orangen nach dem Krieg. Das Schlimmste war für mich, dass ich keine Bücher hatte, vollkommen abgeschnitten war von jeder intellektuellen Beschäftigung. Und das war auch der Grund, das ich Depressionen kriegte nachher. Ich hatte auch keine Freunde mehr, auch keine Mädchen. Ich war immer ein Junge, der sich sehr für Mädchen interessierte und ich hatte auch... im Ghetto gab es keine und in Israel auch nicht. In Palästina kam ich in ein Kibbuz und arbeitete dort als Landarbeiter.

Und ich erinnere mich, dass im April `44 oder März `45, da hörte ich noch die letzte Rede von Goebbels im Radio, Durchhalterede, der immer sagte: "... wir werden den Feind zurückschlagen... und jeder von uns wird in den Kampf gehen, wie in einen Gottesdienst... wir werden die Feinde zurückdrängen." Usw. usw. Aber dann ein paar Wochen später war der Krieg zu Ende und Deutschland kapitulierte.

 

E. Hilsenrath »Mein Kriegsende«, errinnert sich im WDR Fernsehen