Das Manuskript zur Sendung:
Als Romanautor bekannt wird Edgar Hilsenrath erst in den 70er Jahren - aber
gleich von den Kritikern hoch gelobt. Geboren 1926 in Leipzig, wächst er in
einer bürgerlichen Kaufmannsfamilie auf. Gut behütet. Als einziges
jüdisches Kind in der Klasse wird er zur Zielscheibe antisemitischer
Angriffe. Der Vater schickt ihn 1938 mit Mutter und Bruder zu den
Großeltern nach Rumänien. Das Exil wird für Edgar zur Falle. Die
rumänische Regierung paktiert mit den Nazis. Der 17-Jährige wird in
ein jüdisches Ghetto in der Ukraine deportiert.
Edgar Hilsenrath erinnert sich:
Das Problem war, die Stadt war vollkommen zerstört. Es gab keine
Häuser mehr, alles Ruinen. Wir kampierten in den Ruinen und fanden aber
dann mit Hilfe eines Bekannten, der befreundet war mit einem rumänischen
Polizeikommandanten, der einen Brief, ein Schreiben von ihm kriegte, mit der
Erlaubnis, eine Schule zu requirieren für sich und seine Leute. Wir nahmen
diese Schule in Besitz. Das war ne alte russische Schule und dort brachte er
seine Freunde hin, darunter waren wir auch, meine Familie. Das war unsere
Rettung, denn die Schule hatte vier Wände und ein Dach und war sogar Ofen
drin zum Heizen. Und wir wurden dort einquartiert. Es kamen hunderttausende
Juden in das Ghetto und bald herrschte ein Chaos. Es gab nichts zu Essen. Die
Rumänen ließen kein Essen rein und wir durften nur zehn Mark
mitnehmen. Die Leute verhungerten. Und es lagen schon in den nächsten
Wochen Tote auf der Straße.
Also wir waren unter rumänischer Verwaltung. Die Rumänen machten Jagd
auf Juden und deportierten sie weiten nach dem Osten. Die nahmen am Anfang nur
die Obdachlosen mit. Ich habe das in meinem Roman "Nacht" beschrieben.
Die Leute wurden aus den Häusern gepeitscht und zum Bahnhof und zum Bug
transportiert. Am Bug... der Bug war die Grenze zwischen den... Dnjestr und Bug
war die Grenze des rumänischen Verwaltungsgebiets. Auf der anderen Seite
vom Bug stand deutsche SS. Die Rumänen wollten ihre Juden loswerden und
deportierten tausende über den Bug zur SS. Und die SS hat die Leute gleich
erschossen.
Jede Nacht Razzien. Man hörte Schreien und Heulen. Und die Leute wurden zum
Bahnhof gepeitscht. Sie wussten, dass sie umgebracht wurden und heulten und
schrieen und das ging jede Nacht. Frühmorgens lagen schon die Toten auf der
Straße, die vom Hunger gestorben waren oder vom Typhus. Das war ein Bild,
das sich mir sehr eingeprägt hatte.
Im März 1944 hat sich die Front verschoben. Und die Deutschen und die
Rumänen haben sich zurückgezogen und die Russen sind einmarschiert.
Für mich war das das Ende des Krieges, war im März `44, also ein Jahr
früher, war für uns der Krieg zu Ende. Die Russen kamen mit Panzern
und Lastwagen und Pferdewagen und besetzten die Stadt und gingen dann weiter
über den Dnjestr und drangen in Rumänien ein. Paar Wochen später
wurde Chernowitz befreit von den Russen und auch unsere kleine Stadt Seret.
Ich beschloss damals, nach Hause wieder zurück zu gehen, das heißt
nach Seret und ging zum Fluss runter. Und wir lagerten am Fluss mit einigen
Freunden von mir und da kam ein russisches Boot mit Soldaten. Und die gaben mir
Wodka und die brachten uns über den Fluss. Und wir gingen auf der anderen
Seite zu Fuß dann bis Chernowitz, waren ungefähr 150 Kilometer.
Unterwegs schliefen wir bei Bauern. Wir hatten Glück, die Russen haben uns
nicht belästigt. Wir waren Flüchtlinge, die nach Hause gingen. Die
Russen haben uns nichts getan.
Ich kam in Chernowitz an, da hatte ich eine Tante, bei der ich wohnte. Eines
Morgens um sechs Uhr früh pochte jemand an die Tür. Ich machte auf, da
stand ein russischer Soldat und sagt, ich wäre verhaftet. Warum weiß
ich nicht. Ich war damals 18 Jahre alt. Ich folgte dem Soldaten und wir gingen
zum Kommandantur. Dort waren bereits Hunderte von Leuten, die verhaftet wurden.
Und ich erfuhr später, dass die Russen Arbeiter brauchten im Gebiet von
Donbass in den Kohlegruben. Ich war dort einen Tag in diesem... Riesensaal mit
allen anderen Verhafteten. Und dann war ein Appell. Da war ein Mann, der
hieß David Hildsenrath, genau wie mein Vater, mein Vater hieß auch
David Hilsenrath. Es war aber nicht mein Vater, sondern einer der zufällig
so hieß. Ich ging zu ihm und sagte: "Wissen Sie, Sie heißen wie
mein Vater." Und da stellte sich raus, ja, er stammt aus Kolomea. Meine
Großmutter stammte aus Kolomea und dass es ein Cousin war von mir. Er
konnte gut russisch und sagte mir: "Wir werden deine Papiere fälschen.
Wir machen aus der acht eine sechs, ein bisschen wegradieren von der Tinte und
wir machen dich 16 Jahre." - Das machte er mit ein bisschen Tinte und
Tusche und dann ging er zum Kommandanten und sagte: "Hier, der Junge ist
erst 16 Jahre. Lassen sie ihn nach Hause gehen."
Ich ging dann im Herbst 44 zu Fuß nach Bukarest, das heißt,
teilweise mit dem Pferdewagen, teilweise zu Fuß. Und kam im September `44
in Bukarest an. Ich Bukarest hatte ich einen Bekannten, der war Führer in
der zionistischen Bewegung. Der hieß Izu Herzig. Ich ging zu ihn und
sagte: "Du, ich komme gerade aus Seret und brauche Hilfe." Es sagte:
"Pass auf, wir schicken Leute nach Palästina. Wenn du mitfahren
willst, ich bringe dich in einem Transport unter." Damit war ich
natürlich einverstanden. Und wir stellten einen Transport zusammen, die
illegal nach Palästina fuhren. Wir bekamen falsche Pässe von toten
Juden und stellten Familien zusammen, bekamen neue Mutter und neuen Vater und
Brüder und Schwestern.
Also, wir fuhren mit dem Zug über die rumänische Grenze nach
Bulgarien. Wir schafften es bis Starasagora. Das ist eine bulgarische
Kleinstadt. Da stoppten uns die Russen und holten uns aus dem Zug und
verhafteten uns, weil wir illegal waren. Wir hatten keine Papiere und brachten
uns in einer Schule unter, wo wir interniert waren. Sie taten uns aber nichts.
Wir mussten dort bleiben. Wir durften nicht rausgehen, konnten dann später
in die Stadt gehen, aber durften die Stadt nicht verlassen. Und von der
jüdischen Gemeinde wurde dann Geld gesammelt für uns und die brachten
uns Essen. Und es kamen auch Leute von der jüdischen Gemeinde und luden uns
zum Essen ein. Und... es war eigentlich nicht schlecht. Dann kam Ben Gurion
persönlich nach Sofia und hat uns... hat mit den Russen verhandelt und hat
uns... hat uns rausgeholt. D. h., wir durften dann weiterreisen. Die Russen
hatten nichts dagegen, dass wir weiter reisten.
Und wir reisten dann in die Türkei. Istanbul 1944 war ganz anders als
heute. Da waren wenig Autos, war ne Stadt, meistens Pferdewagen und Fiaker sah
man und wunderschön mit Moscheen und... Wir guckten uns Istanbul an und
wurden dann mit einer Fähre über den Bosporus geschifft und dort
wartete die Bagdad-Bahn nach der anderen Seite vom Bosporus, mit der wir dann
durch Syrien und Libanon bis Palästina fuhren. Ich schrieb im Zug meine
ersten Novellen.
Die Reise dauerte ziemlich lange, wochenlang. Unterwegs schliefen wir meistens
in irgendwelchen Dörfern es ging lange nicht weiter. Wir schliefen im Zug.
Wir kamen dann eines Tages in Palästina an. Ein großer Jubel im Zug,
als wir das heilige Land sahen und die fingen an, zu singen. Und die Leute waren
alle glücklich. Als wir über die Grenze fuhren, kamen kleine Araber-
Jungen und verkauften uns Orangen. Wir hatten kein Geld, aber wir gaben ihm, was
wir hatten, was weiß ich, Uhren und irgendwelche anderen Sachen. Und ich
aß damals meine ersten Orangen nach dem Krieg. Das Schlimmste war für
mich, dass ich keine Bücher hatte, vollkommen abgeschnitten war von jeder
intellektuellen Beschäftigung. Und das war auch der Grund, das ich
Depressionen kriegte nachher. Ich hatte auch keine Freunde mehr, auch keine
Mädchen. Ich war immer ein Junge, der sich sehr für Mädchen
interessierte und ich hatte auch... im Ghetto gab es keine und in Israel auch
nicht. In Palästina kam ich in ein Kibbuz und arbeitete dort als
Landarbeiter.
Und ich erinnere mich, dass im April `44 oder März `45, da hörte ich
noch die letzte Rede von Goebbels im Radio, Durchhalterede, der immer sagte:
"... wir werden den Feind zurückschlagen... und jeder von uns wird in
den Kampf gehen, wie in einen Gottesdienst... wir werden die Feinde
zurückdrängen." Usw. usw. Aber dann ein paar Wochen später
war der Krieg zu Ende und Deutschland kapitulierte.
E. Hilsenrath »Mein Kriegsende«, errinnert sich im WDR Fernsehen,