August Wilhelm Schlegel wurde für die Erfindung des unsinnigen Begriffs
»Weltliteratur« (denn was für eine sollte es sonst noch geben?) bestraft, indem
der Ruhm dafür auf deren Propagandisten Johann Wolfgang von Goethe überging.
Dieser war im Jahre 1827 in Deutschland durch einen gewissen Wolfgang Menzel
abschätzig beurteilt worden, gleichzeitig aber im Pariser Le Globe und in der
Londoner The Foreign Review gelobt, was ihn der Hoffnung Ausdruck geben ließ,
die internationalen Zeitschriften würden als »literarische Eilboten« eines immer
schneller werdenden »geistigen Handelsverkehrs« zur Überwindung nationaler
Schranken beitragen. Bereits ein Jahr später schrieb er allerdings entnervt an
seinen Freund Zelter: »Sodann bemerke, daß die von mir angerufene Weltliteratur
auf mich, wie auf den Zauberlehrling zum ersäufen zuströmt.«
Inzwischen ist »Weltliteratur« zum Synonym für literarische Werke geworden, die
über das heimische Sprachgebiet hinaus Gemeingut der gebildeten Menschheit
geworden sind oder durch Verleihung von Nobel- und anderen Preisen, durch
Aufnahme in Bestenlisten und Kanons zu diesem erklärt werden.
Eine Kunstwelt aus bösen Träumen, Ängsten und obrigkeitlicher Willkür
Dass Franz Kafka dazugehört, ist unbestritten. Und doch notierte sein Bewunderer
Elias Canetti nach der späten Lektüre von Robert Walsers Schriften: »Kafka
erbleicht« (und meinte sicher »verblasst«), weil er Walser »extremer als Kafka«
fand, »der ohne ihn nie entstanden wäre, den er mit erschaffen hat«. Was aber
führte dazu, dass Kafka dennoch zu einem Fixstern im weltliterarischen Kosmos
wurde und Walser eine nur von wenigen Liebhabern geschätzte Erscheinung im
nationalen Kontext blieb?
Lassen wir die biografischen Momente beiseite – das zur
Mythenbildung geeignete deutsch-jüdische Milieu Prags, sein früher Tod und das
Wirken Max Brods, der die nachgelassenen Romane gegen den Wunsch des Autors
publizierte – und suchen nach literarischen Gründen, so spricht für Kafka
unter anderem die leichtere Übersetzbarkeit seiner Werke. Während Walser stets
an den Klang des heimatlichen Dialekts gebunden blieb, orientierte sich der
Versicherungsangestellte Kafka am nüchternen Stil amtlicher Verlautbarungen.
Walser empfand Sprache vor allem als akustisches Phänomen, Kafka nutzte sie von
Beginn, das heißt von seinen Traumprotokollen an als Medium zur Übermittlung
optischer Eindrücke und befand sich damit im Einklang mit der durch die Geburt
der Filmtechnik einsetzenden Visualisierung unserer Sinnenwelt.
Doch um Weltruhm zu schaffen, gehört mehr dazu als die an keine Sprachgrenzen
gebundene Verständlichkeit von Bildern. Kafka hat mit seinen Erzählungen
Chiffren für den absurden Aspekt seines Jahrhunderts geschaffen, ein griffiges
Logo, das bei aller Abgründigkeit eine Eindimensionalität voraussetzt, zu der
Walser nicht fähig war. Bei ihm war die »Kleinheit« des Erzählers ein Akt
bewusster Demut, um den Facettenreichtum menschlichen Lebens besser erfassen und
darstellen zu können; Kafka hat diese Bedienstetenperspektive mit dem Gefühl der
Ohnmacht angesichts einer in absoluter Ordnung erstarrten Welt gepaart. Während
Walsers Figuren Fermente der Unordnung darstellen, sind sie bei Kafka hilflose
Opfer einer zu Tode geordneten Welt, aus der es kein Entrinnen gibt. Er hat das
häufig kopierte Muster für die Darstellung des Lebens in einer Epoche der
Kriege, Revolutionen und Diktaturen geliefert: Ob im »Dritten Reich« oder in der
frühen Bundesrepublik, ob in den Diktaturen Osteuropas oder Südamerikas, immer
konnten sich Schriftsteller mehr oder weniger berechtigt als Opfer fühlen und
sich der nicht nur aus Zensurgründen schwierigen Aufgabe der konkreten
Darstellung ihrer Lebensverhältnisse entziehen, indem sie eine Kunstwelt aus
bösen Träumen, Ängsten und obrigkeitlicher Willkür schufen. Kafka wird damit zu
einer der wichtigsten Quellen für die so genannte Sklavensprache mit ihrem Hang
zu Verschlüsselungen und geheimen Zeichen.
Trotz Canettis Warnung »Glaub ihm nicht, er dichtet, um gedeutet zu werden« ist
die Dechiffrierung derartiger Zeichen eine der Lieblingsbeschäftigungen von
Germanisten, da sie sie zu Eingeweihten in die tieferen Geheimnisse der
Sprachkunst macht. Kein Wunder also, dass Kafka für sie nach einer einige Jahre
währenden Schrecksekunde zum bevorzugten Forschungsobjekt wurde. Zusammen mit
dem Thomas Mann des Zauberbergs, mit Robert Musil und wahlweise Hermann
Broch, Döblin oder Hans Henny Jahnn wurde er zur deutschsprachigen Sektion der
»klassischen Moderne« gezählt, was für die berufsmäßigen Deuter den Vorteil
hatte, von der einen Klassik (der Weimarer) zur nächsten übergehen zu können,
ohne sich der verwirrenden Vielfalt literarischer Produktion in diesen
Jahrzehnten stellen zu müssen.
Was über den Wunsch nach Hierarchisierung hinaus die genannten Autoren zum
Klassikerdasein verdammte, ist nicht leicht zu erforschen. Vor allem dürfte es
eine gewisse Exklusivität sein, die sich in formalen Neuerungen, im Gestus des
die Zeitereignisse überhöhenden großen Wurfs und in einer damit
zusammenhängenden Reserviertheit des durchschnittlichen Publikums diesen Werken
gegenüber ausdrückt. Zumindest konnte der Millionenerfolg von Falladas und
Remarques Romanen nicht zu ihrer Kanonisierung beitragen. Auch wenn es ihnen zu
verdanken ist, dass wir eine literarische Chronik ersten Ranges des äußeren wie
des Seelenlebens der Deutschen in dieser Epoche besitzen, wurden sie als
»Volksschriftsteller« abqualifiziert, die sich nicht über einen trockenen
Realismus zu erheben vermochten.
Die Abneigung der deutschen Kritik gegen eine allzu sehr von Wirklichkeit
beschmutzte Literatur ist älter als das 20. Jahrhundert, doch steigerte sie sich
angesichts seiner besonderen Widerwärtigkeit zur Phobie. Insbesondere jene
Werke, die sich mit dem letzten Weltkrieg in der Position des Zeugen und nicht
des vorschnellen Bewältigers auseinander setzten, wurden mit peinlichem
Schweigen bedacht, sodass nicht nur bei W. G. Sebald der Eindruck aufkommen
konnte, sie seien niemals entstanden. Ernst Ledigs Romane und das Tagebuch der
Anonyma mussten für Jahrzehnte vom Markt verschwinden, bevor sie ins Bewusstsein
der Öffentlichkeit gelangten; Ernst von Salomons Fragebogen und Lothar
Günter Buchheims Boot wurden trotz ihres Publikumserfolges in der
halben Welt von der heimischen Kritik ignoriert; Walter Kempowski kann zwar
wegen seiner beispiellosen Arbeit als Archivar nicht mehr übersehen werden,
wurde aber als Autor genauso wenig wie Edgar Hilsenrath der höchsten in
Deutschland zu vergebenden Weihe, des Büchner-Preises, für würdig erachtet.
Nur eins darf der Dichter nicht sein: Ein Mensch unter Menschen
Vielleicht kann das Schicksal von Hilsenraths Hauptwerk Nacht
einiges von den Mechanismen erklären, nach denen Bücher in die
»Weltliteratur« eingehen oder nicht. Hilsenrath hatte nach Kriegsende –
in Palästina, Frankreich und schließlich in New York – in immer neuen
Anläufen versucht, seine grauenhaften Erlebnisse im Ghetto von
Mogilew-Podolsk in einem Roman zu verarbeiten. Nach achtjähriger Arbeit
konnte er endlich das Manuskript auf einer Maschine mit deutschen
Lettern abtippen und in die Heimat schicken, aus der man ihn vertrieben
hatte.
Doch während die amerikanische Übersetzung inzwischen an Tankstellen verkauft
und in Schulen gelesen wurde, vermoderte das Original im Keller eines deutschen
Verlags, weil die Verlegersgattin und der Werbeleiter es nicht mit ihrem
Gewissen vereinbaren konnten, das Buch unter die Leute zu bringen. Hilsenrath
kehrte trotzdem nach Deutschland zurück. Rund zwanzig Jahre nach seiner
Entstehung erschien der Roman endlich im Verlag Helmut Braun, später bei Piper,
wo auch seine folgenden, in zahlreiche Sprachen übersetzten Bücher
herausgebracht wurden. Das hinderte den Verlag nicht daran, sich inzwischen
wieder von seinem Autor zu trennen und die Publikation der Werkausgabe einem
kleinen Verlag in Köln zu überlassen. Nacht wurde in keinen der
gängigen Kanons aufgenommen, Hilsenrath musste sich jahrelang anhören, dass es
in Deutschland keine bedeutenden jüdischen Autoren mehr gebe, er wurde Zeuge der
Lobeshymnen auf Semprun, Kertesz, Begley, ohne dass jemand auf die Idee kam, ihn
als den ebenbürtigen Autor zu würdigen, der er ist.
Warum ist Nacht bis heute für die Kritik unverdaubar geblieben? Es
liegt wohl an der Unerbittlichkeit der Darstellung, die weder durch Ironie
gemildert wird noch durch die Distanz, die das Schreiben als »Erinnerung«
gewährt, noch durch die Betonung der besonderen Rolle der Juden als Opfer,
sondern sie als Mitbewohner einer Hölle zeigt, in der niemand der
Entmenschlichung ausweichen konnte.
Das ist zu viel. Der Kelch der Kanonisierung ging an Hilsenrath vorbei und wurde
Günter Grass gereicht, dessen Blechtrommel etwa zur gleichen Zeit
entstand und seitdem als der repräsentative Beitrag der Deutschen zum Thema
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg betrachtet wird. Was sie vor allem
dazu machte, sind die auf ihr produzierten, unbezweifelbar neuen Töne, denn
anders als etwa in Russland, wo sich Autoren bewusst auf ihre Vorgänger stützen,
gilt die Novität im deutschen Sprachbereich bereits als Verdienst. Das Bedürfnis
nach einem Neuanfang war in der Nachkriegszeit, als man sich von einer
unglückseligen Vergangenheit abzustoßen hatte, besonders stark und wurde von der
Blechtrommel auf verschiedene Weise befriedigt: neben dem ungewohnt
barocken Sprachstil durch die Inszenierung des Krieges als eine Groteske, in der
jede Figur eine vor allem durch ihre Nationalität – Kaschube, Pole, Jude,
Deutscher – bestimmte Rolle zu spielen hat. Außerhalb davon steht nur der
ewig Kind bleibende Held, dessen Beobachterposition der Leser gern teilt, weil
sie ihn der Verantwortung enthebt. Oskar Matzerath wird damit zum Vorbild für
zahlreiche Autoren, die sich durch den Gestus der Anklage oder des
»Hinterfragens« aus dem Schuldgefängnis der Geschichte zu befreien meinen.
Sie hoben eine Art von Literatur auf das Podest, die den Schriftsteller zu allem
Möglichen machte, zum zeigefingerreckenden Oberlehrer, zum Staatsanwalt, zum
Psychoanalytiker, nur nicht Mensch unter Menschen sein lässt. Er entschwebt so
weit der irdischen Sphäre, dass er, überreicht man ihm (oder in diesem Fall ihr)
für die erhabene Unlesbarkeit ihrer Werke den vom Erfinder des Dynamits
gestifteten Preis, diesen nicht selbst in Empfang nehmen kann, sondern dreifach
vervielfältigt und fünffach vergrößert auf einer Videoleinwand wie eine Gottheit
zu uns spricht.
Bernd Wagner, geboren 1948 in Sachsen, ist Schriftsteller. 1997 erschien
sein Roman »Paradies«
Quelle:
Die ZEIT 11.08.2005 Nr.33