Geboren: Leipzig - 1926. Wir zogen 1929 nach Halle an der Saale. Dort ging ich
zur Schule. Volksschule. Dann Mittelschule. Bis 1938.
Ich war das einzige jüdische Kind in der Klasse, und das war im
nationalsozialistischen Deutschland kein Vergnügen. Besonders unsere Schule
in Halle war eine Hochburg antisemitischer Hetzpropaganda. Trotzdem hatte ich
Freunde in der Klasse. Es waren nicht viele und ausnahmslos Kinder, deren Eltern
keine Nazis waren. Die antisemitische Hetze, die von einigen Lehrern (nicht
allen - es gab Ausnahmen) betrieben wurde, schien nur bei den Kindern zu wirken,
wo sie auch zu Hause, also durch den direkten Einfluß der Eltern,
unterstützt wurde.
Meine Großeltern (die Eltern meiner Mutter) wohnten in der Bukowina
(Rumänien). Sie waren streng orthodoxe Juden. Meine Mutter wuchs in der
Bukowina auf, ging später nach Wien und kam 1920 nach Deutschland. Sie
heiratete meinen Vater 1924.
Meine anderen Großeltern (die Eltern meines Vaters), ebenfalls orthodoxe
Juden, stammten aus Galizien, aber sie waren schon seit der Jahrhundertwende in
Deutschland ansässig. Als meine Großmutter ihr erstes Kind erwartete,
fuhr sie, wie das damals so Sitte war, zu ihren Eltern nach Galizien. Dort wurde
mein Vater 1898 geboren. Meine Großmutter fuhr dann einige Wochen
später wieder nach Deutschland zurück (Leipzig). So kam es, daß
mein Vater, zuerst össterreichischer, später, als Galizien von Polen
annektiert wurde, polnischer Staatsbürger wurde, obwohl er eigentlich immer
nur in Deutschland gelebt hatte.
Mein Vater war Kaufmann. Er hatte ein Geschäft in Halle an der Saale. Im
Ersten Weltkrieg war er an der Front. Als ehemaliger österreichischer
Reserveoffizier, Kriegsfreiwilliger und Träger der Silbernen
Tapferkeitsmedaille, konnte er es nicht begreifen, warum die Nazis sein
Geschäft boykottierten. Aber die Nazis machten in seinem Fall keine
Ausnahme. Später, kurz vor Ausbruch des Krieges, wurde unser gesamtes
Vermögen von den Nazis beschlagnahmt.
1938 begann mein Vater das Geschäft aufzulösen. Da er eine Vorladung
der Gestapo fürchtete, schickte er Frau und Kinder vorsichtshalber ins
Ausland. Im Sommer 1938 fuhren meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich
zu meinen Großeltern nach Siret (kleine Stadt in der Bukowina,
Rumänien). Einige Monate später brannten in Deutschland die Synagogen.
Ein Pogrom hatte stattgefunden (Kristallnacht). An eine Rückkehr nach
Deutschland war nicht mehr zu denken. Mein Vater flüchtete nach Frankreich.
Wir wollten zu ihm, konnte aber kein Einreisevisum bekommen. Dann brach der
Krieg aus, und wir wurden völlig voneinander abgeschnitten.
Inzwischen war in Rumänien eine faschistische Regierung ans Ruder gelangt.
Die ersten Judengesetze traten in Kraft. Juden wurden aus der Armee und aus
öffentliche Ämtern entfernt. Pogrome fanden statt. In Bukarest trieb
man Juden ins Schlachthaus und hängte sie auf. Dann kam die
Rußlandinvasion. Rumänische Truppen kämpften an der Seite der
Deutschen. Im August 1941, im Vertrag von Tiraspol, schenkte Hitler seinen
Verbündeten ein Stück des russischen Kuchens. Es handelte sich um das
eroberte Gebiet zwischen Dnjestr und Bug in der Ukraine, das an Rumänien
abgetreten wurde. Die Rumänen nannten das Gebiet "Transnistria".
Wir wohnten zu dieser Zeit, wie schon erwähnt, in der Bukowina. Im Oktober
1941 beschloß die rumänische Regierung, sämtliche Juden aus
Bessarabien und der Bukowina (Gebiete, die nach dem Ersten Weltkrieg von
Rumänien annektiert wurden) über die alte russische Grenze
abzuschieben und zwar: in das von Rumänien besetzte Gebiet der Ukraine
(Transnistria).
Am 14. Oktober wurden wir abtransportiert. Die Züge rollten nach Osten. Man
brachte uns ins jüdische Ghetto der ukrainischen Ruinenstadt Moghilev-
Podolsk am Dnjestr. Viele der Deportierten wurden erschossen. Im Ghetto
herrschten Hunger und Typhus. Die meisten hatten kein Dach über dem Kopf,
kein Spaß im russischen Winter. Wie das große Sterben aussieht und
wie man in solch einem Ghetto überlebt, das habe ich in meinem Buch
"Nacht" beschrieben, ohne
Beschönigung, so wie es wirklich war.
Im März 1944 marschierten die Russen ein. Wir hatten überlebt. Das
Gebiet zwischen Dnjestr und Bug, auch die Stadt Moghilev-Podolsk, war befreit.
Die Befreiung durch die Russen war fragwürdig. Sie hatten uns das Leben
gerettet. Das stimmt. Aber bald, im April 1944, rollten lange
Güterzüge ins russische Kernland:
Zwangsarbeiter, Juden und Nichtjuden. Die Russen brauchten Arbeitskräfte.
Leute wurden auf offener Straße verhaftet oder in der Morgendämmerung
aus den Federn gejagt und mitgenommen.
Ich ging Anfang April 1944 zu Fuß nach Rumänien zurück. Aber
kaum hatte ich Cernowitz erreicht, wurde ich von den Russen verhaftet. Mir
gelang die Flucht. Ich flüchtete über den Siretfluß und kam nach
Siret (die Stadt heißt wie der Fluß). Hier hatte ich vor der
Deportation gewohnt. Die Stadt war abgebrannt. Die Russen kümmerten sich
nicht um mich. Ich mietete mir einen Pferdewagen und schaukelte hinter der
russischen Front her - bis nach Bukarest. Als ich anlangte, hatte die Stadt
gerade kapituliert. Kurz darauf reiste ich mit einem gefälschten Paß
nach Palästina, auf dem Landweg über Bulgarien, Türkei, Syrien
und Libanon. Für mich war der Krieg zu Ende.
In Palästina erfuhr ich vom Roten Kreuz, daß mein Vater den Krieg in
Frankreich überlebt hatte. Ich setzte mich mit ihm in Verbindung. 1947
reiste ich nach Frankreich. Ich hatte meinen Vater fast 10 Jahre nicht gesehen.
Inzwischen waren auch meine Mutter und mein Bruder aus der Ukraine
zurückgekehrt. Nach Siret. Ich teilte ihnen die Adresse meines Vaters mit.
Auch sie kamen auf Umwegen nach Frankreich. Die Familie war wieder vereint.
1951 wanderte ich nach Amerika aus. Mein Bruder etwas früher. Meine Eltern
kamen 1953 nach.
1970 wanderten meine Eltern noch einmal aus. Nach Israel. Dort starb mein Vater.
Es war sein letzter Wunsch, in Israel zu sterben. Meine Mutter lebt heute in
Beer-Sheba, Israel [1]. Mein Bruder ist verheiratet und lebt in Kalifornien. Ich
selbst lebte bis 1975 in New York als freier Schriftsteller. Ende 1975 bin ich
nach Deutschland zurückgekehrt. Berlin ist jetzt mein ständiger
Wohnsitz.
Edgar Hilsenrath
Aktuelle Anmerkung Edgar Hilsenraths:
[1] Meine Mutter lebt nicht mehr und ist 1978 verstorben.