Alles Tarnung. Häuser aus in sich ruhender, schicksalsloser Bürgerlichkeit eines
anderen Jahrhunderts. Hier wohnt er? In Friedenau? Edgar Hilsenrath, der
Unbürger. Der Unbehauste. Der Mann, der seit den 50er Jahren die kälteste
deutsche Prosa schreibt. Seine Bücher waren schon Welterfolge, als man in
Deutschland immer noch Angst vor ihm hatte. Vor seiner A-, seiner Un-, seiner
Anti-Moralität. Morgen bekommt er in der Akademie der Künste den Lion-
Feuchtwanger-Preis.
Darf man schreiben wie Hilsenrath?
Zwei Laternen am Hauseingang mit Teppich dahinter. Der Name Hilsenrath fehlt am
Klingelschild. Seitenflügel also. Das passt schon besser. Hilsenrath, der
Seitenflügel-Mensch. Einer, der schräg von der Seite schaut, während andere
geradeaus nach vorn blicken und ihn nicht bemerken. Er hat diesen
Beobachterblick wie alle, die mehr sehen, als sie sagen.
Wir gehen vom Winzigst-Flur in ein Winzigst-Wohnzimmer. Auf einem Schreibtisch
steht eine Winzigst-Schreibmaschine. So klein, dass sie nicht mal einen Namen
hat. Die Schreibmaschine könnte aus den 30ern, 40ern oder 50ern sein. Die
meisten der Hilsenrath-Geschichten sind auch aus den 30ern, 40ern oder 50ern.
Aber seine Sprache war schon immer von heute, nicht nur wegen der Kurzsätze.
Nicht nur wegen seiner Neigung zum Ordinären. Manche halten den Gebrauch von
Worten aus dem Universum der menschlichen Verdauung schon für Expressionismus.
Hilsenrath benutzt sie auch. Er ist einer der ganz wenigen, denen man das
verzeiht. Denn bei ihm behaupten diese Worte das Humanum im Äußersten. Wer das
verstanden hat, hat Hilsenrath verstanden.
Es gibt zwei Sorten von Schriftstellern. Die, die viel reden, und die, die nicht
viel reden. Hilsenrath gehört zur zweiten Gruppe. Was er zu sagen hat, steht in
seinen Romanen. In "Nacht", in "Der Nazi & der Friseur", in "Jossel
Wassermanns Rückkehr", in "Die Abenteuer des Ruben Jablonski", im "Märchen vom
letzten Gedanken" oder in "Fuck America!". Wenn er alles, was er sah, auch
anders mitteilen könnte, hätte er es nicht aufzuschreiben brauchen. Aber er wäre
nie so unfreundlich, das auszusprechen.
Wie viele Wörter braucht man, um die Jahre in Mogilev-Podolski zu erzählen, als
Hilsenrath gerade 17 war? Er wusste es lange nicht. Bis zu einem Tag Ende der
40er Jahre, da saß er, der Jude, der Überlebende, in Frankreich in einer Kneipe
und ließ sich Wein, Bleistift, Papier bringen. Er ahnte: Es ist so weit! Nach
zwei Stunden hatte er 30 Seiten "Nacht" geschrieben, 30 Seiten seines ersten
Romans.
Schauplatz von "Nacht" ist Mogilev-Podolski. Mogilev-Podolski gehörte zur
Ukraine, und als die Deutschen die Ukraine besetzten, überließen sie es den
Rumänen. Rumänien deportierte alle seine Juden in die zerschossene Stadt und
machte ein riesiges Lager aus ihr. Man brauchte hier keine Gaskammern, Seuchen
und Hunger übernahmen das Töten. Auch Edgar Hilsenrath gehörte zu den
deportierten rumänischen Juden. Hilsenrath, der Pelzhändlersohn aus Leipzig,
aufgewachsen in Halle, wo sein Vater ein Möbelhaus übernahm. Leipzig hatte eine
große jüdische Gemeinde, Halle nicht. Hilsenrath war der einzige jüdische Junge
in der Klasse. Das fiel nicht weiter auf. Er sah deutscher aus als die meisten.
Blonde Haare und blaue Augen. Bis jemand bemerkte, dass er an den jüdischen
Feiertagen fehlte. Da verprügelten sie ihn. Und der Lehrer erklärte ihm, warum
die Juden kein Schweinefleisch essen: Weil sie nicht ihresgleichen auffressen,
sagte er und lachte das schreckliche zynische Lachen der kleinen, viel zu
kleinen Leute. Hilsenrath weiß es noch wie gestern. Er trägt einen schwarzen
Pullover, Jeans und einen Bart wie Nietzsche, Walrossbart. Nietzsche hatte einen
weichen Mund, den wollte er verbergen. Kann sein, Hilsenrath geht das genauso.
Kann aber auch sein, er findet den Bart einfach schön. Wenn sich die Jahrzehnte
in sein Gesicht gegraben hätten - man hätte es verstanden. Andere, die erlebt
haben, was er erlebt hat in Mogilev-Podolski, sahen mit Mitte 20 schon aus wie
Greise. Er hat sie alle beschrieben. Nun ist Hilsenrath bald 80. Aber sein
Gesicht ist fast glatt. In seinem Fall hatte das Leben Sinn für die Pointe. Es
verachtet das Nächstliegende, das Erwartbare, genau wie Hilsenrath.
Alles in seinen Büchern ist autobiografisch. Nichts ist autobiografisch. "Fuck
America" beginnt mit einem Brief an den amerikanischen Generalkonsul im November
1938. Es ist die Bitte um ein Einreisevisum. So einen Brief hatte Hilsenraths
Vater an den amerikanischen Konsul geschrieben. Denn eigentlich wollte die
Familie nach Amerika gehen und nicht nach Rumänien. Der Antrag wurde abgelehnt.
Was?, ruft Hilsenrath, dieser Brief ist doch frei erfunden. Zwar hat sein Vater
wirklich einen geschrieben, nur anders. Die Ablehnung stimmt auch, vor allem die
Mitteilung, dass die USA sich in der Lage sähen, der Familie in frühestens 13
Jahren ein Visum erteilen.
Genau 13 Jahre später fuhren die Hilsenraths tatsächlich los. Nur dass sie
inzwischen das Nichtüberlebbare überlebt hatten in Mogilev-Podolski. Jeder
getrennt vom anderen. Als "displaced persons" bekamen sie die Visen ganz leicht.
Dann stand Nathan Bronsky, Hilsenraths literarisches Alter Ego vor der
Freiheitsstatue, glaubte, es sei der Generalkonsul, und sagte genau die zwei
Worte Englisch, die er konnte: Fuck America!
Er ist lange in Amerika geblieben. Er war das, womit man in Amerika anfangen
soll: Tellerwäscher, Aushilfskellner. Nur wollte er nicht Millionär werden,
sondern Schriftsteller. Er schrieb nachts, manchmal holte er sich morgens um
drei noch Kaffee und Zigaretten. Er schrieb noch immer an "Nacht", dieser große
Totenklage für sein Volk. Es erschien im Verlag "Doubleday & Company" in New York.
Der Cheflektor fragte, ob Hilsenrath nicht gleich ein zweites Buch schreiben
könne. Er konnte. Er schrieb "Der Nazi & der Friseur". Es wurde ein Welterfolg,
nur in Deutschland lehnte ein Verlag nach dem anderen ab, das Buch zu drucken.
Bertelsmann, Rowohlt, Fischer, Hanser, alle. So geht das nicht, fanden sie.
Hilsenrath lächelt. Er weiß selbst nicht mehr, wie er auf die Idee gekommen ist,
die Geschichte von Max Schulz zu erzählen. Max Schulz, der beste Freund des
Itzig Finkelstein, gelernter Friseur (bei Finkelstein senior, Itzigs Vater),
später SS-Oberscharführer und Massenmörder, nimmt nach dem Krieg die Identität
seines (durch ihn umgekommenen) Jugendfreundes Itzig an, verkauft auf dem
Berliner Schwarzmarkt einen Sack voll Goldzähne und wandert nach Israel aus.
Nein, so geht das nicht, so kann man den Holocaust nicht behandeln, fanden die
deutschen Verlage. Er konnte es nur so. In größtmöglicher Entfernung zu allem,
worüber Menschen wie sein Hallenser Lehrer lachen konnten, zu allem, worüber sie
weinen konnten.
Edgar Hilsenrath sitzt an seinem Schreibtisch, vor sich die kleine
Schreibmaschine. Der Tisch ist bedeckt mit Papieren. Hilsenraths New Yorker
Verlag war leicht brüskiert, als das Nazi-&-Friseur-Manuskript auf seinem Tisch
lag. Das war ja auf deutsch! - War es, sagt Hilsenrath, ich habe nie in einer
anderen Sprache geschrieben. Schließlich kehrte er in seine Sprache zurück. Ein
BBC-Journalist in London empfahl ihm Berlin. Also ging er nach Berlin.
Hilsenrath hat es nie bereut. Hier traf er den Verleger Helmut Braun, der
endlich, sieben Jahre nach seinem Welterfolg "Der Nazi & der Friseur" auch in
der Sprache herausbrachte, in der es geschrieben war. Hilsenrath wurde
erfolgreich. Er veröffentlichte bei Piper, als es den Braun-Verlag nicht mehr
gab. Irgendwann in den 90ern gab Piper Edgar Hilsenrath die Rechte an seinen
Büchern zurück. Es gibt keine größere Kränkung für einen Autor. Hilsenrath
verkaufte nicht mehr so viel wie früher. Die verstehen nichts von Büchern, nur
von Zahlen, bemerkt Hilsenrath trocken, aber eine Kopfbewegung verrät ihn. Wer
ist schon Piper? Seine Bücher erscheinen weiter, und zwar als Gesamtausgabe bei
Dittrich in Köln, wunderbar gemacht, betreut wieder von Helmut Braun, dem Mann,
der Hilsenrath für Deutschland entdeckt hat.
Jetzt ist das vielleicht schönste Hilsenrath-Buch wieder da, "Jossel Wassermanns
Heimkehr". Als Hilsenrath 1938 Deutschland verließ, fuhr er in die Heimat seiner
Mutter, nach Sereth in der Bukowina. Dort, im Schtetl, war er zu Hause, drei
Jahre lang vor der Deportation. In "Jossel Wassermanns Heimkehr" fahren die
Schtetl-Juden in einem Zug, dessen Wagen sich nur von außen öffnen lassen, und
der Rebbe streitet mit dem Wind: "'Dabei wissen sie nicht, dass wir das Beste
mitgenommen haben.' ,Was ist das Beste?', fragte der Wind. Und der Rebbe sagte:
'Das kann doch nicht sein. Die Geschichte der Schtetljuden ist zurückgeblieben.'"
Der Rebbe behält recht. Denn die Geschichte der Schtetljuden hockte längst auf
dem Dach des Zuges, und da die Geschichte der Schtetljuden viele Stimmen hat,
hockten auch die Stimmen dort, die kleinen Stimmen und die großen, deren
Erzählungen für die Geschichtsbücher bestimmt waren. Die großen schliefen meist,
die kleinen nie. Hilsenrath schrieb auf, was sie sagten.
Quelle:
Der Tagespiegel 26.11.2004