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Die Abenteuer des Ruben Jablonski

»Ich will atmen und leben und schreiben«

Von Sabine Barth

Am 2. April letzten Jahres las Edgar Hilsenrath im Literarischen Colloquium Berlin ein Kapitel aus seinem neuen Roman vor. Humorvoll schildert er darin die Unbilden und Schwierigkeiten, die der junge Ruben Jablonski mit seiner Arbeit als Krankenträger in Tel Aviv im Winter 1947 hat. Seit einem Jahr war man nun gespannt und neugierig auf den jetzt erschienenen Roman, den er einen »autobiographischen« nennt. Das Buch umfaßt vor allem die Zeit zwischen 1944, nach der Befreiung aus dem Ghetto Moghilev-Podolsk, und 1951, Hilsenraths Emigration in die USA. Hilsenrath über diese Jahre: »Aber eigentlich habe ich nichts erlebt. Nichts, was mich beschäftigt. Ich könnte nur etwas erfinden.« Der Roman straft seine Worte Lügen. Prallvoll mit Erlebnissen, Eindrücken, Begegnungen sind »Die Abenteuer des Ruben Jablonski«.

»Kennst Du das Land, wo die Orangen blühen?« Voll Sehnsucht und Erwartung reist der 18jährige Ruben zusammen mit 500 anderen Juden, ausgestattet mit gefälschten Pässen von der Zionistischen Bewegung, im Zug von Bukarest nach Palästina. Hinter ihm liegen die Flucht seiner Familie aus Deutschland, Deportation, Ghetto und die anschließend verzweifelte Suche nach dem, was seine Kindheit ausgemacht hat. »Der Spätsommer und der Herbst 1938 waren die schönste Zeit in meiner Kindheit«, jäh beendet durch die Ereignisse der Kristallnacht. Aus dem hoffnungsvollen Leben wird ein angstvolles überleben, erschüttert beschrieben in dem Ghetto-Roman »Nacht«, in dem Hilsenrath die Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet hat. Ruben Jablonski, Hilsenraths Alter ego, ringt um das Schreiben von »Nacht«. überzeugt und unbeirrbar weiß er trotz seiner Jugend, daß er ein Schriftsteller ist, auch wenn er noch keine passenden Worte für seine Empfindungen und Erlebnisse findet.

Ruben arbeitet im Kibbuz, schwitzt als Tellerwäscher, hilft bei der Bepflanzung der Negev-Wüste, schleppt als Krankenträger und schuftet auf dem Bau. Aber alle Abenteuer und Ereignisse lassen ihn nicht seine Einsamkeit vergessen. Palästina ist nicht das Land seiner Sehnsucht, nicht zuletzt, weil er die Sprache nicht spricht. Er sucht Kontakt zu deutschsprachigen Exilanten und Einwanderern im Café Schalom. Sie haben ähnliche Erfahrungen wie er gemacht, den Holocaust, ein immer wiederkehrendes Thema ihrer Gespräche, ein nicht zu löschendes Trauma. Hilsenrath bemüht keine Psychologismen, um die seelischen Zerstörungen darzustellen, sondern konfrontiert den Leser ohne Schonung mit den Verletzungen der Menschen: Iwonna, Rubens Reisebegleiterin nach Palästina, geschlagen, vergewaltigt und vernarbt, oder die Frau ohne Brüste, zunächst im KZ-Bordell mißbraucht und anschließend als medizinisches Versuchsobjekt mißhandelt. Lapidar, fast nebensächlich stehen diese unvorstellbaren Grausamkeiten im Text. Mit gleicher Einfachheit beschreibt Hilsenrath auch Rubens sexuelle Begegnungen, Episoden, die fast alle nach dem gleichen Schema ablaufen: Zuerst liegt die Hand auf dem Knie, dann wandert sie in die Hose, schließlich - beim Erfolg - landen die beiden Menschen aufeinander und er »fickt« sie, meistens zweimal. Gefühle spielen keine Rolle, es geht nur um die Triebbefriedigung bzw. um die Bestätigung, daß man noch lebt. Zugleich zeigen sie auch die nagende Einsamkeit des jungen Mannes, er ist im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein.

Ruben Jablonski lernt nicht nur die Schicksale seiner Leidensgenossen kennen, sondern auch das Schicksal eines zerrissenen Landes. Er sieht die schwelenden Konflikte zwischen den Arabern, Juden und Engländern. Ohne eine einseitige Position zu beziehen, billigt er den Völkern ihr jeweiliges Recht auf einen Staat zu. Der Roman ist in diesem Punkt nicht nur ein beredtes Zeitdokument, sondern die Stimme eines jüdischen Autors, der die Unterdrückung eines Volkes selber erfahren hat und um die vernichtenden Folgen für die Menschen weiß. Der Aufenthalt in Palästina endet kurz nach der Entscheidung der Vereinten Nationen für die Errichtung eines Judenstaates. Nach dem Freudentaumel auf der Straße überläßt sich Ruben dem Taumel der Wellen. Ein alter Frachtdampfer bringt den jungen Helden mit 30 weiteren Passagieren nach Marseille, wo er nach 10jähriger Trennung seinen Vater wiedersehen wird.

Hilsenrath schildert die Erinnerungen an seine Kindheitserlebnisse mit seinem Vater mit anrührender Zartheit, und die Sehnsucht des jungen Mannes nach seiner Familie wird so mehr als verständlich. Dennoch kann die Wiedersehensfreude nicht verbergen, daß die Zeit die Menschen sehr verändert hat.

Nur mit großen Schwierigkeiten akzeptiert Ruben die Rolle des Sohnes, denn sein seit Jahren eigenverantwortliches Handeln soll er wieder der vermeintlichen Autorität des Vaters unterordnen. Das Schreiben wird ihm nicht nur verunmöglicht, sondern es ist ihm auch psychisch aufgrund einer schweren Depression nicht möglich. Elektroschocks als Therapie werden ihm verordnet, aber der Vorgang des Schreibens an sich ist die wahre Therapie, wie Edgar Hilsenrath weiß. »Ich will atmen und leben und schreiben«, das ist Rubens bannbrechende Erkenntnis. Wie eine Springflut sprudeln plötzlich Wörter, Sätze und Gedanken auf das Papier, die geistige und auch die ihn quälende körperliche Impotenz sind verschwunden. Freiheit ist kein abstrakter Begriff mehr für ihn, sondern körperlich erlebbar; auch für den Leser.

Edgar Hilsenrath zählt zu den seltenen Autoren, die mit einer einfachen und klaren Sprache höchst subtile und komplexe Zusammenhänge darstellen. Stilistisch knüpft der Roman sowohl an »Nacht« als auch an dem früheren autobiographischen Roman »Bronskys Geständnis« an. Hinsichtlich des geschilderten Zeitraums ordnet er sich genau zwischen diese beiden Bücher ein. Faszinierend für den Leser ist vor allem auch die thematische Verzahnung bzw. Vernetzung der Romane, eine Lücke im Werk Hilsenraths hat sich damit geschlossen. Der spannende Abenteuerroman steht literarisch in der Tradition der klassischen Erziehungsromane, der jungendliche Held auf seinem Weg durch das Leben à la »Wilhelm Meister«,- ein Taumel von vernichtenden Schicksalsschlägen zu unglaublichen Glücksfällen, witzig und abenteuerlich beschrieben: eine schöne, eine schreckliche Lektüre. Denn die Zeit, der Holocaust und seine Folgen, lassen sich nicht beim Lesen verdrängen, übergangslos greifen Verzweiflung und Hoffnung, Todesangst und Befreiung, Wahnsinn und Erlösung ineinander. Hilsenrath ist kein Warner in der Wüste, sondern er will durch sein Schreiben und Erzählen »die Vergangenheit der unterdrückten Völker« bewahren. Mit seinem jüngsten Buch hat er das erneut auf eindrucksvolle Weise erreicht.

 

Foglio, Frühjahr 1997