Ruben Jablonski hat zwei Wünsche. Der erste zeugt von hohem Selbstgefühl und
läßt sich einstweilen nicht in die Tat umsetzen: Er will einen Roman über die
überstandene Zeit im Ghetto schreiben. Der zweite ist handfesterer Natur - und
wird auch so erfolgreich wie hemmungslos verwirklicht: Er möchte so viele Frauen
wie möglich in die Horizontale bringen. Der Ich-Erzähler benutzt für die
Beschreibung dieses Vorgangs, der sich im Abstand weniger Seiten wiederholt,
harte, ordinäre Worte, die wir hier nicht zitieren wollen.
Als der 21jährige Jablonski jedenfalls 1947 Palästina in Richtung Frankreich
verläßt, hat er dort zahlreiche Damen, wenn auch jeweils nur für kurze Zeit,
glücklich gemacht - alte und junge, schöne und häßliche. Schreiben und Lieben
hängt eng zusammen: Weil es mit dem Roman auch in Paris partout nicht
weitergeht, verfällt der Autor in spe in Depressionen, die sich unter anderem in
hartnäckiger Impotenz äußern.
Hartnäckiges Drängen
Wir wissen, daß Edgar Hilsenrath, der hinter Ruben Jablonski steckt, all dies
schließlich zu einem guten Ende gebracht hat. In den USA vollendete er seinen
noch in Frankreich begonnenen Ghetto-Roman, der 1964 unter dem Titel "Nacht"
erstmals in Deutschland erschien, damals freilich noch kein nachhaltiges Echo
fand.
Auf hartnäckiges Drängen seines Verlegers hat Hilsenrath, der im vergangenen
Jahr 70 Jahre alt wurde, nun also seine frühe Lebensgeschichte in Gestalt eines
autobiographischen Romans niedergeschrieben. Es ist der Roman einer jugendlichen
Sinnsuche, der Picaro-Roman eines Getriebenen, Entwurzelten, dessen Biographie
durch den Einbruch der Geschichte irreparabel beschädigt wurde. Ruben Jablonskis
hektischer Lebenshunger verdankt sich einzig dem Willen zur Selbstvergewisserung
- der Vergewisserung, noch am Leben zu sein. All das wird freilich nicht
ausgeführt, es nistet zwischen den Worten, den Zeilen, die sich in der
schmucklos- kurzatmigen Schilderung von Ereignisketten ergehen.
1938 flüchtet er mit der Familie aus dem nazistischen Deutschland zu Verwandten
in die Bukowina. Dort holt ihn 1941 der Terror ein: Nach der Machtergreifung,
der Faschisten in Rumänien wird er mit seinen Angehörigen ins jüdische Ghetto
der ukrainischen Stadt Moghilew-Podolsk deportiert. Er überlebt, schlägt sich
nach der Befreiung des Ghettos nach Bukarest durch, kommt schließlich mit
gefälschten Pässen in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, wo er in
verschiedenen Kibbuzim Pionierarbeit leistet und sich mit Gelegenheitsjobs über
Wasser hält. Es ist die Zeit vor der Gründung des Staates Israel, da jüdische
Terroristen englische Kasernen hochgehen lassen, sich zugleich aber auch der
jüdisch-arabische Konflikt ankündigt. Ihn faßt Hilsenrath in ein einprägsames
Bild: Araber treiben ihre Viehherden in die von Juden angelegten Pflanzungen -
und werden mit Gewalt aus dem neuen Garten Eden verjagt. Für denjenigen, der
über die Situation in Palästina nach dem Krieg etwas erfahren möchte, besitzt
Hilsenraths Schilderung einen erheblichen Quellenwert.
Der Holocaust, Hilsenraths zentrales Thema, ist auch das Thema dieses Buches -
und taucht selbst die auf den ersten Blick prall-burlesken Szenen in tiefes
Schwarz. Mit schonungsloser Nüchternheit werden die Hinweise auf die Frau
plaziert, der SS-Arzte ihre Brüste abschnitten, auf den stets lächelnden Mann,
der seine ganze Familie im Vernichtungslager verlor. Aber das war's auch schon.
Es nicht - oder kaum - auszusprechen, das ist Hilsenraths Weg, für das
Furchtbare eine Sprache zu finden. Den literarischen Wert dieses Romans wird man
weder unter- noch überschätzen wollen. Es gibt Eintöniges, Stereotypen, kaum
variierte Wiederholungen, die nur viel guter Wille als Stilmittel zu
qualifizieren vermöchte. Als Zeugnis für ein Leben nach der Hölle aber
beeindruckt er und ergreift.
Kölner Stadt-Anzeiger, 6.3.1997