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"Verliebt in die deutsche Sprache - Die Odyssee des Edgar Hilsenrath"

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Die Abenteuer des Ruben Jablonski

Die Gewißheit des überlebens

Edgar Hilsenraths autobiographischer Roman ist ohnegleichen in der deutschen Literatur
Von Marko Martin

Welch ein Buch! Mit 23 Jahren setzte sich Edgar Hilsenrath in ein Bistro in Lyon, um jenen Roman zu schreiben, den er dann, tagsüber als Kellner jobbend, in einem Emigranten-Cafe am New Yorker Broadway beendete - "Nacht", die traumatische Geschichte über das rumänische Ghetto Moghilev-Podolsk. Und nun, knapp 50 Jahre später, "Die Abenteuer des Ruben Jablonski", Edgar Hilsenraths autobiographischer Roman über seine Kindheit in Halle an der Saale bis hin zu jenem Moment, wo der junge Ghetto-überlebende in Lyon seine Sprache findet; jene Sprache, die das erlebte Grauen bannen kann, in dem sie es so präzis wie möglich und in fast brutaler Direktheit beschreibt. Auch in diesem Buch wird man keinen falschen Satz finden, keine Zeile, die zuviel wäre und keine Episode, die, vom persönlich erlittenen Schicksal ausgehend, nicht doch die Grundfragen aller menschlichen Existenz anspräche.

" 'Tausende werden ihre Geschichte schreiben', sagt im Kibbuz eine Lehrerin zu Hilsenrath alias Ruben Jablonski, 'und es wird nur wenig Wertvolles darunter geben.' 'Ich will keinen Augenzeugenbericht schreiben', sagte ich, 'sondern einen Roman.' 'über das Ghetto kann man keinen Roman schreiben', sagte sie. 'Doch, das kann man', sagte ich."

Man kann sogar - vorausgesetzt, man heißt Hilsenrath und haßt mäandernde Konjunktivsätze so wie er - weit über die zeitlich begrenzte Ghetto-Erfahrung hinaus autobiographisch schreiben, sein Tun Revue passieren lassen und Epochen, Gesichter, Landschaften in klare Sätze packen, in Momentaufnahmen, die sich für immer ins Gedächtnis einätzen.

Und so beginnt die Geschichte eines kleinen Jungen in Sachsen, der seine Eltern fragt, was Juden sind und im Kindergarten von seiner Freundin Gertrud das erste Mal etwas über die große Stadt Berlin erfährt. Dann kommen die Nazis an die Macht, und das Kind fragt seine Eltern: " 'Werden mir die Nazis meinen Teddybär wegnehmen?' 'Den nehmen sie bestimmt.' 'Er hat aber nur ein Ohr.' 'Das macht nichts.'" Der Vater flüchtet nach Paris und schickt Frau und Kinder zu den Großeltern in die rumänische Bukowina, wo man die sächsische Aussprache schon für kultiviertes Hochdeutsch hält und sich die ansässigen K.u.K.-nostalgischen Juden über die Ankunft ihrer Verwandten "aus dem Land Goethes und Schillers" freuen.

Der junge Ruben tritt bei den linken Zionisten ein, erregt mit seinen kurzen Hosen aber beträchtliches Aufsehen: " 'In Deutschland tragen alle Jungen kurze Hosen', sagte ich. 'Auch so enge?' 'Ja', sagte ich. 'Besonders in der Hitlerjugend. Da tragen die Jungs die Hosen besonders eng. Eine Hose muß nämlich sitzen.'"

Dann überstürzen sich die Ereignisse. Im Windschatten des Hitler-Stalin-Paktes reißt die UdSSR die eine Hälfte der Bukowina an sich; im Sommer 1941 fallen hier die Deutschen und die Truppen des mit ihnen verbündeten faschistischen Rumäniens ein. Ruben Jablonski kommt mit seiner Familie ins Ghetto Moghilev-Podolsk am östlichen Ufer des Dnjestr, überlebt aber wie durch ein Wunder. Als im März 1944 die Befreiung kommt, ist Ruben 18 Jahre alt - und für die Russen als potentieller Zwangsarbeiter von Interesse. Er wird bei einer Razzia in Czernowitz verhaftet. Kann sein Alter heruntermogeln, kommt wieder frei. In Bukarest schließt er sich einer zionistischen Gruppe an und kommt auf dem Landweg ins damalige britische Protektorat Palästina. Dort - Pardon - fickt er sich frei. Denn die "Abenteuer des Ruben Jablonski" sind auch durchaus sexueller Natur. Der Liebhaber der sublimen erotischen Nuance wird hier kaum auf seine Kosten kommen. "Um acht Uhr abends ging ich ins Kino. Ein Film mit Esther Williams. Ich beobachtete fasziniert ihre langen Beine, wichste mir einen ab und zuckte zusammen, als ich merkte, daß ich einem vor mir sitzenden Mann an den Hinterkopf gespritzt hatte." In der Folgezeit wechseln für Ruben, der sich als Kibbuzarbeiter oder Tellerwäscher verdingt, reale Frauen dann die Projektionen ab, aber auch da geht es gleich drastisch zur Sache: "Ich packte sie an den Brüsten ... Ich legte sie gleich aufs Kreuz... Ich schob zwei Nummern mit ihr und jagte sie dann aus meinem Bett."

Freunde steril-idealistischer Gründungsmythen über den Staat Israel werden an diesem Buch wenig Freude finden, und die deutsch-arabische Verständnisfraktion schon gar nicht, denn Hilsenrath zeichnet keine verlogenen Idyllen: "Bei den Arabern lief nichts. Sie lebten wie im tiefsten Mittelalter. Sie haßten die Juden wegen ihrer Tüchtigkeit und weil sie von den Juden verdrängt worden waren."

Ruben Jablonski beschäftigen vor allem zwei Sachen - sein Schwanz und der Roman, den er über seine Lager-Erfahrungen schreiben will. Bei letzterem kommt Zuspruch von Max Brod, der einen warmherzigen Brief schreibt und dem jungen Kollegen die Lektüre von Gottfried Kellers "Grünem Heinrich" empfiehlt. Das wirkliche Schlüsselerlebnis aber wird - im Herbst 1949, Ruben ist mittlerweile in Frankreich angekommen, wo er seine Eltern wiedertrifft - die Lektüre von Remarques "Arc de Triomphe": "Zum ersten Mal hatte ich gesehen, wie einer in knappster Sprache Atmosphäre einfängt, gute Charaktere schafft, rasend spannend erzählen kann und vor allem Dialoge schreibt, wie ich sie noch nie gelesen hatte."

Er beginnt zu schreiben, und siehe, jeder Satz ist gut. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch der neue Hilsenrath-Roman zeigt den Autor auf der Höhe seines Könnens. Das Buch endet auf unnachahmliche Weise mit einem Gespräch auf dem Schiff, das den Protagonisten von Europa nach Amerika bringt: " 'Wie heißen Sie überhaupt', fragte die Dame. 'Ruben Jablonski', sagte ich. 'Also Ruben Jablonski', sagte die Dame. 'Ich trage Ihren Namen in mein Notizbuch ein. Und ich werde nach Ihrem Buch Ausschau halten.' Ein Herr aus der Gruppe sagte: 'Ich werde in der New York Times nach Ihnen suchen.' 'Ja, machen Sie das', sagte ich."

 

Der Tagesspiegel, 19.3.1997