Wer eine Autobiographie schreibt, muß entweder so berühmt sein, daß man hinter
die Kulissen seines Lebens schauen will, oder etwas Außergewöhnliches zu
erzählen haben. Bei Edgar Hilsenrath ist beides der Fall: Sein neues Buch
ermöglicht einen Einblick in die Werkstatt des Romanciers, und es führt an
Schauplätze, die man bestenfalls vom Hörensagen kennt. Hilsenrath erzählt in der
ersten Person, aber aus der Perspektive der Kunstfigur Ruben Jablonski. So
bleibt ein Rest von Geheimnis, denn es ist ja nicht ausgemacht, daß Hilsenrath
und Jablonski völlig deckungsgleich sind, zumal das Buch als Roman deklariert
ist.
Nur durch wenige, aber entscheidende Rückblenden unterbrochen, wird eine
abenteuerliche Lebensgeschichte erzählt. Ruben Jablonski wächst in Halle an der
Saale auf und wird sich durch die beginnende Verfolgung seines Judentums bewußt
- die Dialoge, die diesen Prozeß prägnant wiedergeben, gehören zu den besten des
Buches. Der Vater schickt die Familie nach Rumänien, in das kleine Städtchen
Sereth in der Bukowina. Dort erlebt Jablonski eine faszinierende jüdische Welt
und das friedliche Zusammenleben verschiedenster Volksgruppen.
Aber Rumänien wird faschistisch, und die Juden werden entweder der SS
ausgeliefert und erschossen oder in Ghettos eingesperrt - Jablonski kommt in die
ukrainische Ruinenstadt Moghilev-Podolsk am östlichen Ufer des Dnjestr.
Schwarzhandel unter Lebensgefahr sichert das überleben. Nach der Befreiung
erkundet Jablonski Czernowitz, sieht Sereth noch einmal und kann über Bukarest
auf dem Landweg nach Palästina reisen. Dort hält er sich mit
Gelegenheitsarbeiten über Wasser, lebt kurz in einem Kibbuz, überlebt die
Malaria und registriert jüdische Emigrantenmilieus und die arabische Lebenswelt,
die täglichen Konflikte und das Werden des Staates Israel.
1947 reist er zu seiner Familie nach Frankreich. Aber dort hält es ihn nicht
lange, denn er hat nur ein Programm: "Ich will atmen und leben und schreiben".
Daß ihm das knapp vor der Auswanderung nach Amerika endlich gelingt, damit endet
der Roman, dessen Abenteuer um das überleben kreisen und um den Wunsch, als
Schriftsteller von diesen Abenteuern zu schreiben.
Hilsenrath hat die autobiographischen Wurzeln seines Ghetto-Romans "Nacht"
freigelegt. Und so wie er dort die gängige Schwarzweißmalerei von bösen Tätern
und guten Opfern unterläuft, verzichtet er hier darauf, sein Alter ego besonders
sympathisch zu zeichnen. Das gilt nicht zuletzt für das reiche Sexualleben
Jablonskis, der Frauen vor allem danach beurteilt, ob sie "ein guter Fick" sind,
und so viele "Nummern schiebt", daß man mit dem Zählen nicht mehr nachkommt.
Dem Roman gelingt es vor allem in den Dialogen hervorragend, seine Figuren
unverwechselbar zu zeichnen, aber im Register sexueller Abenteuer werden die
Frauen - auch sprachlich - austauschbar. Daß diese Schilderungen nicht zum
Selbstzweck verkommen, liegt an der Parallelität von sexueller Potenz,
Lebenswillen und schriftstellerischer Fähigkeit: "Ich war glücklich. Ich hatte
keine Depressionen mehr, konnte schreiben und war nicht mehr impotent. Was
konnte ich mehr vom Leben erwarten", heißt es gegen Ende.
Mit viel Selbstironie werden die scheiternden Schreibversuche erzählt, aber
bevor eine Apologie des Werkes einsetzen könnte, bricht die Lebensgeschichte ab.
Zuvor blitzt im Anschluß an eine Lektüre Remarques noch Hilsenraths Ideal des
Erzählens auf: dichte Atmosphäre, gute Charaktere, Spannung und unverwechselbare
Dialoge. Der Roman löst dieses Ideal ein: ein Zeitpanorama, das Zeugnis einer
jüdischen Odyssee im 20. Jahrhundert und die Geschichte eines Schriftstellers,
dem Literatur genauso wichtig ist wie Leben und überleben.
Die Presse, Spectrum, 5.4.1997
Mit freundlicher Genehmigung von Cornelius Hell