E d g a r   H i l s e n r a t h






...zurück



Nacht

Der Nazi
und der Friseur


Moskauer Orgasmus,
oder "Gib acht,
Genosse Mandelbaum"


Fuck America, oder
"Bronskys Geständnis"


Zibulsky, oder
"Antenne im Bauch"


Das Märchen vom
letzten Gedanken


Jossel Wassermanns
Heimkehr


Die Abenteuer des
Ruben Jabloknsky


Erzählungen

Berlin... Endstation



Dies ist eine
computerfeindliche
Lösung


Dichterlesung 1978

"Lesen Sie mal den
Arc de Triomphe"
Erinnerung an
Erich Maria Remarque




...zurück



Über Edgar Hilsenrath

...mehr



Mit Edgar Hilsenrath

...mehr



Impressum

Links



"Verliebt in die deutsche Sprache - Die Odyssee des Edgar Hilsenrath"

Wanderausstellung des
Edgar-Hilsenrath-Archivs
der Akademie der Künste
Berlin

15. Mai bis 14. Juli 2006
HS Fulda Transfer
Fulda

1. bis 28. August 2006
Gerhart-Hauptmann-Haus
Düsseldorf






Rezension zu Edgar Hilsenraths "Nacht"

Schwerer Brocken Trauerarbeit

Von Niels Höpfner

Ein Schriftsteller, der einem epischen Kolossalgemälde des Grauens den Jesaja-Vers »Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln« voranstellt, ist entweder ein unerschütterlich gläubiger Fatalist oder ein Zyniker par excellence. Das erste wohl - und gewiß sogar - trifft für Edgar Hilsenrath zu, der mit dem genannten Bibelspruch seinen Roman Nacht einleitet: ein Buch von schwärzestem Schwarz. Sonnenfinsternis, total. Eine Immer-Nacht.

Edgar Hilsenrath wurde hierzulande erst 1977 - der Vorsprung des anglo- amerikanischen Auslands war enorm - durch seine Satire Der Nazi & der Friseur bekannt. Deren Thema war der Identifikationswechsel des Blut-PG Max Schulz, der nach dem Krieg als der ermordete Itzig Finkelstein weiterlebte, wobei die Maskerade sogar die Einwanderung in Israel ermöglichte. Diese Geschichte war groß-gespenstisch fabuliert.

In seinem früher entstandenen Roman Nacht  fabuliert Hilsenrath kaum oder überhaupt nicht. Er reportiert als Chronist, dem´s dem´s um die Wahrheit geht, um nichts als die Wahrheit, menschliches Elend, dessen Ausgangspunkt die eigene Leidensgeschichte bildet. Hilsenrath, geboren 1926 in Leipzig als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, wurde, gemeinsam mit dem Bruder, von der Mutter wenige Monate vor der Kristallnacht zu den Großeltern nach Rumänien, in die Bukowina, in vermeintliche Sicherheit gebracht. Aber auch in Rumänien kam später dann eine faschistische Regierung an die Macht. "Judengesetze" - natürlich auch dort.

In einem autobiografischen Aufsatz, der seinem Roman Nacht beigegeben ist, erhellt Edgar Hilsenrath für uns Nachgeborene, die wir zu Vergeßlichkeit neigen, den damaligen zeitgeschichtlichen Zusammenhang: »...Rußlandinvasion. Rumänische Truppen kämpften an der Seite der Deutschen. Im August 1941, im Vertrag von Tiraspol, schenkte Hitler seinen rumänischen Verbündeten ein Stück des russischen Kuchens. Es handelte sich um das eroberte Gebiet zwischen Dnjestr und Bug in der Ukraine, das an Rumänien abgetreten wurde. Die Rumänen nannten das Gebiet "Transnistria"... Im Oktober 1941 beschloß die rumänische Regierung, sämtliche Juden aus Bessarabien und der Bukowina.... abzuschieben, und zwar: in das von den Rumänen besetzte Gebiet der Ukraine (Transnistria). Am 14. Oktober 1941 wurden wir abtransportiert. Die Züge rollten nach Osten. Man brachte uns ins jüdische Ghetto der ukrainischen Ruinenstadt Moghilev- Podolsk am Dnjestr.«

Als die sowjetrussische Armee das Ghetto erreichte, konnte Hilsenrath flüchten. Von Bukarest aus gelangte er mit gefälschtem Paß über Bulgarien, die Türkei, Syrien und den Libanon nach Palästina. Auch die engere Familie überlebte. Heute hat Hilsenrath, nach einem Umweg über New York, seinen Wohnsitz in Berlin.

Schauplatz des Schreckens in dem Roman Nacht ist das Ghetto Prokow. Eine Masse Mensch kämpft ums Überleben. Überleben: das heißt, nachts einen Schlafplatz im Asyl einer Ruine haben, um nicht von den »Treibern« auf der Straße als Obdachloser aufgegriffen und deportiert zu werden. Überleben: das heißt, am Tag eine Handvoll Eßbares (Kartoffeln oder nur ihre Schalen, ein bißchen Maismehl, ein paar Eier - welch ein Feiertag) ergattern, um den schlimmsten Hunger zu befriedigen, damit die Maschine Körper funktionsfähig bleibt. Unter solchen Verhältnissen wird der Mensch dem Menschen zum Wolf. Da gibt´s kein Pardon, da kommt auch keine Solidarität auf im Elend.

Hilsenrath führt einen Horrorfilm mit Worten vor, der im Zeitlupentempo und in einer Endlos-Schleife, gewissermaßen, abläuft. Wenn ein Roman sonst Werden schildert, so beschreibt Hilsenrath (fast bewegungsloses) Sein. Selbst der Tod bedeutet hier keine Sensation mehr, wird nicht bemerkenswerter Endpunkt in der Entwicklung einer Person, sondern erscheint als das Allerselbstverständlichste von dieser Welt. Menschen werden Fliegen gleich.

Im Mittelpunkt der Geschundenen steht Ranek. Um den Preis des Überlebens wird er selbst ein Schinder, was die Not entschuldigt - entschuldigt sie´s? Eine Sympathie-Figur ist Ranek nicht. Ranek hat Ellenbogen, wenn es um den nächtlichen Schlafplatz geht, der vor Verschleppung rettet. Ranek fleddert sogar Leichen, um sich mit den erbeuteten Habseligkeiten Lebensmittel zu besorgen. Im Ghetto herrscht steinzeitliche Tauschwirtschaft. Ein Paar ausgetretene Schuhe sichert wieder für Tage den Lebensunterhalt. Ranek wird zweimal deportiert, kehrt, totgesagt bereits, zweimal zurück ins Ghetto und stirbt, wie schon so viele vor ihm, an Flecktyphus.

Im Ghetto gilt nur das Recht des Stärkeren, auch hier existiert eine Art Klassengesellschaft mit eigener Hackordnung. In der Chefetage residieren der Kaffeehausbesitzer Itzig Lupu und der Schieber Dvorski, denn ihre Geschäfte mit der Armut florieren. Die Privilegierten des Ghettos sind leicht auszumachen: Familiennamen bescheinigen ihnen ihre Identität, während die Ärmsten der Armen nur auftreten mit austauschbaren Vornamen oder typisiert als »die Alte« oder »der Rote«.

Neben gewöhnlichen Gemeinheiten des Alltags schildert Hilsenrath viele große Furchtbarkeiten: Jemand ertrinkt in einer Latrine - Toten werden die Zähne herausgebrochen - eine Greisin prostituiert sich, um so den Abtransport des toten Sohnes zu bezahlen. Hier noch von Menschenwürde zu reden, wäre eine Phrase. Und trotz des Elends: welch ein Überlebenswille! »Die Alte« begründet ihn so:

»Glück gibt es auch bei uns. Es gibt noch das Glück der Frierenden, die eine warme Decke finden. Und das Glück der Hungrigen, die Brot finden. Und das Glück der Einsamen, die Liebe finden.« Aber zeigt sich hier nicht auch viel, zu viel uralter levantinischer Fatalismus, der taub macht für das Völker-hört-die-Signale?

Eine Figur des Romans bewahrt sich eindrucksvolle Humanität. Das ist Debora, die Frau von Raneks Bruder Fred. Mit fast übermenschlicher Opferbereitschaft pflegt sie ihren kranken Mann, den sie einen weiten Weg auf dem Rücken ins Ghetto getragen hat, um ihn nicht seinen Henkern auszuliefern. Später nimmt sie sich eines mutterlosen Kindes an, dessen Lebens-Zukunft sie mit aller Zähigkeit, die nur möglich ist, verteidigen wird. Mit dem Bild der Debora, die in den Armen das Kind trägt, endet der Roman: ein winziger Lichtspalt in der Nacht.

Hilsenrath erzählt mit einer Eiseskälte, die einem versteinerten Gott alle (Un-) Ehre machen würde. Spurensicherndes, hartes Imperfekt, ganz selten der Wechsel ins atmosphärisch-lockere Präsens. Kein Herausschreien, Herausbrüllen: Seht, was euer Faschismus angerichtet hat. Der Roman transportiert kein Wort Reflexion. Nur Bilder, Bilder, Bilder, die sich allein überlassen bleiben, nur durch sich selbst (und darum um so stärker) wirken. Dabei heischen sie nie nach dem Unbewußt- Emotionalen, sondern wenden sich an die Ratio, schnurstracks. Das ist gut so: Wenn zum Mitleiden nicht mit sentimentalen Tricks überredet werden muß, sondern Einsichten im Kopf zwangsläufig wachsen.

Bücher haben manchmal seltsame Schicksale. Edgar Hilsenraths Roman Nacht  hat in diesem Land schon eine verunglückte Premiere hinter sich. Die deutschsprachige Erstausgabe erschien bereits 1964 bei Kindler, wo das Buch zahlreiche interne Querelen auslöste, so daß es klammheimlich in der Versenkung verschwand. Ganze 791 Exemplare wurden seinerzeit verkauft, während die amerikanische Ausgabe inzwischen bei 500000 Stück angelangt ist. Das fällige Remake hier besorgt jetzt der kleine, aber selbstbewußte Literarische Verlag Braun - mit einer Startauflage von 50000. Ein schwerer Brocken Trauerarbeit.

 

Frankfurter Rundschau, 1978

veröffentlicht in: Kraft, Thomas (Hrsg.): Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen, Piper, 1996