Ein Schriftsteller, der einem epischen Kolossalgemälde des Grauens den
Jesaja-Vers »Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit
großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln« voranstellt, ist
entweder ein unerschütterlich gläubiger Fatalist oder ein Zyniker par
excellence. Das erste wohl - und gewiß sogar - trifft für Edgar
Hilsenrath zu, der mit dem genannten Bibelspruch seinen Roman
Nacht einleitet: ein Buch von schwärzestem Schwarz.
Sonnenfinsternis, total. Eine Immer-Nacht.
Edgar Hilsenrath wurde hierzulande erst 1977 - der Vorsprung des anglo-
amerikanischen Auslands war enorm - durch seine Satire Der
Nazi & der Friseur bekannt. Deren Thema war der Identifikationswechsel
des Blut-PG Max Schulz, der nach dem Krieg als der ermordete Itzig Finkelstein
weiterlebte, wobei die Maskerade sogar die Einwanderung in Israel
ermöglichte. Diese Geschichte war groß-gespenstisch fabuliert.
In seinem früher entstandenen Roman Nacht
fabuliert Hilsenrath kaum oder überhaupt nicht. Er reportiert als Chronist,
dem´s dem´s um die Wahrheit geht, um nichts als die Wahrheit,
menschliches Elend, dessen Ausgangspunkt die eigene Leidensgeschichte bildet.
Hilsenrath, geboren 1926 in Leipzig als Sohn eines jüdischen Kaufmanns,
wurde, gemeinsam mit dem Bruder, von der Mutter wenige Monate vor der
Kristallnacht zu den Großeltern nach Rumänien, in die Bukowina, in
vermeintliche Sicherheit gebracht. Aber auch in Rumänien kam später
dann eine faschistische Regierung an die Macht. "Judengesetze" -
natürlich auch dort.
In einem autobiografischen Aufsatz, der seinem Roman
Nacht beigegeben ist, erhellt Edgar Hilsenrath für
uns Nachgeborene, die wir zu Vergeßlichkeit neigen, den damaligen
zeitgeschichtlichen Zusammenhang: »...Rußlandinvasion.
Rumänische Truppen kämpften an der Seite der Deutschen. Im August
1941, im Vertrag von Tiraspol, schenkte Hitler seinen rumänischen
Verbündeten ein Stück des russischen Kuchens. Es handelte sich um das
eroberte Gebiet zwischen Dnjestr und Bug in der Ukraine, das an Rumänien
abgetreten wurde. Die Rumänen nannten das Gebiet "Transnistria"... Im
Oktober 1941 beschloß die rumänische Regierung, sämtliche Juden
aus Bessarabien und der Bukowina.... abzuschieben, und zwar: in das von den
Rumänen besetzte Gebiet der Ukraine (Transnistria). Am 14. Oktober 1941
wurden wir abtransportiert. Die Züge rollten nach Osten. Man brachte uns
ins jüdische Ghetto der ukrainischen Ruinenstadt Moghilev- Podolsk am
Dnjestr.«
Als die sowjetrussische Armee das Ghetto erreichte, konnte Hilsenrath
flüchten. Von Bukarest aus gelangte er mit gefälschtem Paß
über Bulgarien, die Türkei, Syrien und den Libanon nach
Palästina. Auch die engere Familie überlebte. Heute hat Hilsenrath,
nach einem Umweg über New York, seinen Wohnsitz in Berlin.
Schauplatz des Schreckens in dem Roman Nacht ist das
Ghetto Prokow. Eine Masse Mensch kämpft ums Überleben. Überleben:
das heißt, nachts einen Schlafplatz im Asyl einer Ruine haben, um nicht
von den »Treibern« auf der Straße als Obdachloser aufgegriffen
und deportiert zu werden. Überleben: das heißt, am Tag eine Handvoll
Eßbares (Kartoffeln oder nur ihre Schalen, ein bißchen Maismehl, ein
paar Eier - welch ein Feiertag) ergattern, um den schlimmsten Hunger zu
befriedigen, damit die Maschine Körper funktionsfähig bleibt. Unter
solchen Verhältnissen wird der Mensch dem Menschen zum Wolf. Da
gibt´s kein Pardon, da kommt auch keine Solidarität auf im Elend.
Hilsenrath führt einen Horrorfilm mit Worten vor, der im Zeitlupentempo und
in einer Endlos-Schleife, gewissermaßen, abläuft. Wenn ein Roman
sonst Werden schildert, so beschreibt Hilsenrath (fast bewegungsloses) Sein.
Selbst der Tod bedeutet hier keine Sensation mehr, wird nicht bemerkenswerter
Endpunkt in der Entwicklung einer Person, sondern erscheint als das
Allerselbstverständlichste von dieser Welt. Menschen werden Fliegen gleich.
Im Mittelpunkt der Geschundenen steht Ranek. Um den Preis des Überlebens
wird er selbst ein Schinder, was die Not entschuldigt - entschuldigt
sie´s? Eine Sympathie-Figur ist Ranek nicht. Ranek hat Ellenbogen, wenn es
um den nächtlichen Schlafplatz geht, der vor Verschleppung rettet. Ranek
fleddert sogar Leichen, um sich mit den erbeuteten Habseligkeiten Lebensmittel
zu besorgen. Im Ghetto herrscht steinzeitliche Tauschwirtschaft. Ein Paar
ausgetretene Schuhe sichert wieder für Tage den Lebensunterhalt. Ranek wird
zweimal deportiert, kehrt, totgesagt bereits, zweimal zurück ins Ghetto und
stirbt, wie schon so viele vor ihm, an Flecktyphus.
Im Ghetto gilt nur das Recht des Stärkeren, auch hier existiert eine Art
Klassengesellschaft mit eigener Hackordnung. In der Chefetage residieren der
Kaffeehausbesitzer Itzig Lupu und der Schieber Dvorski, denn ihre Geschäfte
mit der Armut florieren. Die Privilegierten des Ghettos sind leicht auszumachen:
Familiennamen bescheinigen ihnen ihre Identität, während die
Ärmsten der Armen nur auftreten mit austauschbaren Vornamen oder typisiert
als »die Alte« oder »der Rote«.
Neben gewöhnlichen Gemeinheiten des Alltags schildert Hilsenrath viele
große Furchtbarkeiten: Jemand ertrinkt in einer Latrine - Toten werden die
Zähne herausgebrochen - eine Greisin prostituiert sich, um so den
Abtransport des toten Sohnes zu bezahlen. Hier noch von Menschenwürde zu
reden, wäre eine Phrase. Und trotz des Elends: welch ein
Überlebenswille! »Die Alte« begründet ihn so:
»Glück gibt es auch bei uns. Es gibt noch das Glück der
Frierenden, die eine warme Decke finden. Und das Glück der Hungrigen, die
Brot finden. Und das Glück der Einsamen, die Liebe finden.« Aber
zeigt sich hier nicht auch viel, zu viel uralter levantinischer Fatalismus, der
taub macht für das Völker-hört-die-Signale?
Eine Figur des Romans bewahrt sich eindrucksvolle Humanität. Das ist
Debora, die Frau von Raneks Bruder Fred. Mit fast übermenschlicher
Opferbereitschaft pflegt sie ihren kranken Mann, den sie einen weiten Weg auf
dem Rücken ins Ghetto getragen hat, um ihn nicht seinen Henkern
auszuliefern. Später nimmt sie sich eines mutterlosen Kindes an, dessen
Lebens-Zukunft sie mit aller Zähigkeit, die nur möglich ist,
verteidigen wird. Mit dem Bild der Debora, die in den Armen das Kind trägt,
endet der Roman: ein winziger Lichtspalt in der Nacht.
Hilsenrath erzählt mit einer Eiseskälte, die einem versteinerten Gott
alle (Un-) Ehre machen würde. Spurensicherndes, hartes Imperfekt, ganz
selten der Wechsel ins atmosphärisch-lockere Präsens. Kein
Herausschreien, Herausbrüllen: Seht, was euer Faschismus angerichtet hat.
Der Roman transportiert kein Wort Reflexion. Nur Bilder, Bilder, Bilder, die
sich allein überlassen bleiben, nur durch sich selbst (und darum um so
stärker) wirken. Dabei heischen sie nie nach dem Unbewußt-
Emotionalen, sondern wenden sich an die Ratio, schnurstracks. Das ist gut so:
Wenn zum Mitleiden nicht mit sentimentalen Tricks überredet werden
muß, sondern Einsichten im Kopf zwangsläufig wachsen.
Bücher haben manchmal seltsame Schicksale. Edgar Hilsenraths Roman
Nacht hat in diesem Land schon eine
verunglückte Premiere hinter sich. Die deutschsprachige Erstausgabe
erschien bereits 1964 bei Kindler, wo das Buch zahlreiche interne Querelen
auslöste, so daß es klammheimlich in der Versenkung verschwand. Ganze
791 Exemplare wurden seinerzeit verkauft, während die amerikanische Ausgabe
inzwischen bei 500000 Stück angelangt ist. Das fällige Remake hier
besorgt jetzt der kleine, aber selbstbewußte Literarische Verlag Braun -
mit einer Startauflage von 50000. Ein schwerer Brocken Trauerarbeit.
Frankfurter Rundschau, 1978
veröffentlicht in: Kraft, Thomas (Hrsg.): Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen, Piper, 1996