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Rezension zu Edgar Hilsenraths "Nacht"

Nacht

Aus Kindlers Literatur Lexikon

Roman von Edgar Hilsenrath, erschienen 1964. - Der Autor, 1941 ins jüdische Getto der ukrainischen Stadt Mogilev-Podelsk deportiert und 1944 von russischen Truppen befreit, lebte von 1951 an bis zu seiner Rückkehr in die Bundesrepublik (1975) in den USA, wo, in deutscher Sprache, sein Romandebüt Nacht entstand. Das Buch, in nur geringer Auflage 1964 verbreitet, blieb in Deutschland weitgehend unbeachtet, nach Hilsenraths Erfolg Der Nazi & der Friseur  (1977) kam es zu einer Neuauflage des Werks. Vor dem Hintergrund eigener Erlebnisse schildert Hilsenrath lakonisch und ohne Pathos das im Nachkriegsdeutschland kaum beachtete Schicksal der rumänischen Juden. 1941 erhält Rumänien von Deutschland einen Teil der Ukraine, wohin die faschistische Regierung in Bukarest die jüdische Bevölkerung deportiert. Nicht durch gezielten Massenmord sollen sie dort getötet werden, sondern indem das so entstandene Getto von jeder Lebensmittelversorgung abgeschnitten wird und die Menschen dem Hungertod ausgeliefert werden. Als Ordnungsinstanz etabliert sich eine, teils aus Juden gebildete, gettoeigene Polizei, die nachts Jagd auf Obdachlose macht, um sie als Zwangsarbeiter abzuschieben. Eine Geschichte im herkömmlichen Sinn erzählt Hilsenrath nicht, vielmehr reiht er Detail um Detail aus einem geradezu kannibalischen Lebenskampf aneinander, verknüpft lediglich durch die Figur seines Protagonisten Ranek, an dessen Beispiel der Autor die Eskalation des Grauens, den zwangsläufigen Egozentrismus der um ihr Leben Kämpfenden veranschaulicht. Als Raneks Bruder verhungert, meißelt dieser ihm den Goldzahn aus dem Mund, um eine kleine Frist für sein eigenes Überleben zu gewinnen: "Ranek starrte seinen Bruder nicht lange an . . . Ranek wußte, daß es nicht leicht sein würde, Fred den Zahn herauszuziehen; der Mund war so steif wie ein Stück Altholz, und die Lippen waren so fest zusammengepreßt, als hätte er noch in den letzten Zügen daran gedacht, daß man ihn bestehlen würde . . . Freds aufgeplatzte Lippen wurden unter seinen Schlägen allmählich zueinem blutigen Brei . . ." Die eigentliche Provokation, die von diesem in einer unbeteiligten, sparsamen Sprache verfaßten Roman ausgeht, liegt in seinem völligen Verzicht auf jede Reflexion über das Zustandekommen oder einen etwaigen Sinn dieses Elends, wie auch jede Hoffnungsperspektive für die Gettobewohner fehlt; das So-Sein dieser Welt wird ohne Klage festgehalten, Gedanken an Flucht erscheinen so wenig wie Pläne für einen gemeinsamen Aufstand; lediglich in der Gestalt Deborahs, Raneks Schwägerin, die noch Nächstenliebe praktiziert, verbleibt eine Ahnung von jener Welt, aus der diese Menschen vertrieben wurden. Ranek, der sich, Deborah und ein von ihr angenommenes Baby zu retten versucht, stirbt schließlich an Flecktyphus. Innerhalb jener Literatur, die vom Leiden und Sterben der Juden in den Gettos und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten erzählt, nimmt Hilsenraths Roman durch die Lakonie, mit der die Alltäglichkeit dieser Todeswelt geschildert wird ("Vor einem Haustor spielte ein Kind. Es spielte mit dem aufgelösten, weichen, welligen Haar einer Frauenleiche, die am Vormittag aus dem Fenster geworfen worden war. Die Leiche war nicht geplatzt, denn es war ein niedriges Fenster . . ."), eine Sonderstellung ein. Die Kritik stand diesem "schweren Brocken Trauerarbeit" (N. Höpfner), der in seinem Duktus eher einem Tatsachenbericht denn einem Roman ähnelt, zumeist rat- und wortlos gegenüber, sieht man von F. J. Raddatz ab, der den Text mit ästhetischen Kategorien maß und verwarf; das Fehlen einer aus den Figuren entwickelten Geschichte, heißt es dort, mache das Entsetzen behäbig und das Grauen konsumierbar. Eine nur schwer nachvollziehbare Folgerung, steht doch der Leser von Nacht meist wohl vor einer "Ekelschwelle", wie sie auch H. Böll bei seiner Lektüre von Hilsenraths zweitem Roman,  Der Nazi & der Friseur,  begegnete.

 

Redaktion Kindlers Literatur Lexikon

Kindlers neues Literaturlexikon © Systhema Verlag GmbH 1999

Aus: http://www.amazon.de/