Märchen beginnen mit dem Satz "Es war einmal" und gehen gut aus; "Und wenn sie
nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch." Also wäre Hilsenraths Märchen
kein Märchen, denn sein epischer Moment ist der letzte. In diesem letzten Moment
setzt die Erzählung ein: "Ich bin der Märchenerzähler in Deinem Kopf. Nenne mich
Meddah. Und nun sei ganz still, Thovma Khatisian. Ganz still. Denn es dauert
nicht mehr lange. Bald ist es soweit. Und dann ... wenn deine Lichter allmählich
ausgehen ... werde ich Dir ein Märchen erzählen.' 'Was für ein Märchen, Meddah?'
'Das Märchen vom letzten Gedanken. Ich werde zu Dir sagen: Es war einmal ein
letzter Gedanke. Es saß im letzten Angstschrei und hatte sich dort versteckt'".
Für ein Märchen also fängt der Text falsch an. Er geht auch schlecht aus.
Jedenfalls für die Armenier. Nicht für die Türken. nicht für die Kurden und auch
nicht für die Russen, die Engländer, die Amerikaner und die Deutschen. Für die
Armenier aber gilt: Da sie gestorben sind, leben sie heute nicht mehr. Vielmehr:
es leben nur noch wenige. Die toten Armenier leben nur im Märchen weiter,
immerhin - und womöglich in den Alpträumen ihrer Mörder.
Wie der fiktive Augenblick, aus dem sich die Erzählung entfaltet, der letzte vor
dem Tod ist. so ist der historische Augenblick, mit dem sie einsetzt, der
Augenblick vor dem ersten Genozid dieses Jahrhunderts, der Ausrottung des
armenischen Volkes im Jahre 1915: " 'Und bald fing das große Massaker an.' 'Von
welchem Massaker sprichst Du?' 'Von dem bevorstehenden ... das ich Holocaust
nenne.' 'Holocaust?' 'Holocaust' ".
Thovma Khatisian und der Meddah in seinem Kopf sind Augenzeugen. Augenzeugen,
die in ihrem letzten Augenblick vom letzten Augenblick des armenischen Volkes
berichten. " 'Es war ihm also bestimmt, Augenzeuge zu sein?' 'Es war ihm
bestimmt' 'Und das nennst du Glück?' 'Ich nenne es Glück.'" Wer sonst sollte
berichten, wenn nicht der Märchenerzähler? Die Großmächte haben damals die Augen
geschlossen. Und selbst Gott in seiner Allmacht hat nichts gesehen: "Und ich
sage dir: Gott hat Glasaugen." Und warum erzählt der Märchenerzähler gerade
diese Geschichte,obgleich im Augenblick des Todes wahrlich Tröstlicheres denkbar
wäre? "Ich erzähle dem Schweigen die Geschichte des Völkermords. Ich machte das
Schweigen darauf aufmerksam, wie wichtig es sei, daß man offen darüber sprach."
Aber auch das ist nur eine Wahrheit, nur ein Motiv. Ein anderes ist der Impuls,
die Totenstarre zu überwinden, die der Blick auf den Schrecken nach sich zu
ziehen droht. Thovma Khatisian will nicht sterben wie Lots Weib, und er will
nicht in Ungewißheit sterben: " 'Dann werde ich ohne Angst sterben?' 'Du wirst
nicht in Ungewißheit sterben.' 'Ist das dasselbe?' 'Das ist dasselbe.'"
Thovma Khatisian will auch nicht ohne eine Familie sterben, nicht ohne Wurzeln
und Tradition: "Ich habe mir 60 Jahre lang von überlebenden des Massakers
Geschichten erzählen lassen ... und aus den vielen Geschichten habe ich mir dann
meine eigene zurechtgebastelt. Und so hatte ich dann eines Tages eine echte
Familiengeschichte. Ich kannte meine Wurzeln. Ich hatte wieder einen Vater und
eine Mutter und hatte viele Verwandte. Ich hatte auch einen Namen und eine
Tradition."
Den Vater finden Thovma Khatisian und sein allwissender Meddah im Gefängnis von
Bakir, im Frühjahr 1915, an den Füßen aufgehängt, unter ihm der Hundekopf, den
er nicht essen wollte, bis zur Bewußtlosigkeit gefoltert und in dieser
Bewußtlosigkeit von einem Folterknecht gerade in den Mund gefickt. Man hat noch
Großes mit ihm vor, denn die moderne, fortschrittliche, gerechte, übrigens
westlich orientierte Regierung des Jungtürken Enver Pascha braucht Ihn, um die
Fiktion einer armenischen Weltverschwörung den westlichen Zeitungen glaubhaft
machen zu können.
Der Meddah führt uns gemächlich, wie es die Art der Märchenerzähler ist - aber
niemals langweilig -, durch die Geschichte des armenischen Volkes um den Berg
Ararat, wo die Arche Noah gelandet ist; des armenischen Volkes, das als erstes
das Christentum als Staatsreligion annahm und darum von seinem Gott zum Leiden
vorgesehen wurde. Als Wartan Khatisian, der Vater, von der Gefängnisdecke
baumelt, leben noch (fünf Millionen Armenier, vier Millionen auf der türkischen
Seite, eine Million auf der russischen, obwohl ihnen die Türken und die Kurden
in Allahs Namen bei gelegentlichen Massakern immer mal wieder die Bäuche
aufschlitzen und die Schwänze abschneiden.
Die Armenier überleben es immer wieder. sind tüchtig, schlau, geschickt. Sie
zahlen Steuern an die Kurden und die Türken, dennoch bleibt den meisten von
ihnen noch ein Goldstück, um es im Stiefelabsatz zu verstecken, als eiserne
Ration, wenn man wieder einmal plötzlich fliehen muß. Kurz: sie sind wie die
Juden. "Diese beiden Völker sind fast zum Verwechseln. Es ist unglaublich."
Der Meddah kennt auch die Fanliliengeschichte der Khatisians, er kennt sich aus
mit den Sitten des Brautmästens und den fremdartigen Verhältnissen des
Morgenlandes. Was erzählt wird, ist spannend, farbig und fremdartig wie die
Märchen aus 1001 Nacht. Nur eines eben ist nicht fremdartig für uns: die
Geschichte des Genozids. der "endgültigen Lösung des Armenierproblems".
Es beginnt mit einem "getürkten" Waffenfund im armenischen "Ghetto", und dann
funktioniert der Plan mit (dort) nie gekannter Gründlichkeit. Die Männer werden
erschossen und erschlagen, die Frauen und Kinder durch die Berge in die Syrische
Wüste geführt. Spezialeinheiten leiten die Angelegenheit, Polizisten tun das
ihre, Mörder werden aus den Gefängnissen entlassen und stellen ihre Kenntnisse
in den Dienst des Staates, die Kurden metzeln ab, was noch übrigbleibt. Bevor
die Fastenzeit beginnt ist das "internationale Armeniertum" ausgerottet sind die
Städte "armenierrein".
Nur Wartan Khatisian, Thovmas Vater, kommt noch eine Weile davon, überlebt die
türkische Niederlage, kämpft auf der Seite der Roten Armee, kommt nach Sibirien
und dann ins Schweizer Exil. Von dort aus läßt der Meddah ihn 1940 nach Polen
aufbrechen, um mit seinem Schweizer Paß jüdisches Eigentum während des nächsten
Genozids in Sicherheit zu bringen. Der Paß geht verloren, und Wartan endet in
Auschwitz. Juden und Armenier sind eben leicht zu verwechseln.
Verbindet man auf der Landkarte Bakir, wo unser Märchen beginnt (falls Sie es
aus den erwähnten Gründen nicht finden, behelfen Sie sich mit dem Berg Ararat),
in gerader Linie mit Auschwitz, wo das Märchen endet (und das übrigens wegen
seiner geringen Größe auf deutschen Landkarten auch schlecht zu finden ist), so
berührt die Linie ungefähr in ihrer Mitte den russischen Fluß Dnjestr, unweit
der ukrainischen Stadt Moghilev/Podolsk. Hier liegt das heimliche
Erfahrungszentrum von Hilsenraths Märchen. In seinem Roman Nacht, der schon 1964
erschien und damals völlig unbeachtet blieb, um bei seinem zweiten Erscheinen
1976 wenigstens von der Kritik wahrgenommen zu werden, beschreibt Hilsenrath,
wie er - 1928 in Leipzig als Kind jüdischer Eltern geboren, 1938 nach Rumänien,
in die Heimat der Mutter geflüchtet, dann 1941 von den mit den Nazis verbündeten
Rumänen für drei Jahre ins ukrainische Ghetto Moghilev/Podolsk verschleppt - das
Inferno überlebte.
Die gerade Linie vom ersten zum größten Genozid dieses Jahrhunderts schneidet
die Lebenslinie Edgar Hilsenraths und bildet den blutroten Faden seines
Erzählens von Nacht über den Welterfolg Der Nazi & der Friseur bis hin zum
Märchen vom letzten Gedanken.
Erich Fried, gleichfalls von den Nazis zum Experten in Fragen des Genozids
bestimmt, hat vor einigen Jahren bei einem Bremer Literaturgespräch über Fragen
der epischen Darstellbarkeit des Völkermords den Namen von Hilsenrath neben dem
von Peter Weiss genannt. Mir erschien der Hinweis damals abwegig. Zu weit liegen
auf den ersten Blick die Texte des hemmungslosen Fabulierers und die des
puristischen Sprachartisten auseinander.
Dabei legen mindestens die Lebensläufe und die Rezeptionsgeschichte der Werke im
deutschen Sprachraum den Vergleich nahe. Auch Weiss' Vater entstammte dem
galizischen Judentum, auch er war Kaufmann. Weiss wuchs in Bremen und Berlin mit
tschechischer, Hilsenrath in Leipzig mit polnischer Staatsangehörigkeit auf,
heimatlos waren beide von Anfang an. Beide gehören später zu den Exilierten,
waren aber auch unter denen noch randständig: Weiss fand seine Familie in
Schweden wieder, Hilsenrath nach Etappen in Palästina und Frankreich die seine
in New York. Beide kehren heim. aber die Heimkehr ist nur eine in die deutsche
Sprache - auch die übersiedlung nach Berlin, die Weiss immer wieder erwog,
Hilsenrath tatsächlich vollzog, gab den Davongekommenen keine Heimat zurück.
Weiss' Ortschaft hieß Auschwitz. Auschwitz, wo auch Wartan Khatisian ermordet
wird.
über mehr als ein Jahrzehnt lehnten die deutschen Verlage Weiss' Texte ab.
Hilsenraths grausamen, durch keinen Philosemitismus erträglich gemachten Roman
Nacht wollten die deutschen Verlage und die deutschen Leser ebenfalls
jahrzehntelang nicht haben. Der Nazi & der Friseur, ursprünglich auf Deutsch
geschrieben, mußte erst in den USA ein Riesenerfolg werden, um hier einen
(Klein-)Verleger zu finden. Das Volk, das soviel Spaß am Holocaust gehabt hatte,
verübelte dem überlebenden Opfer, daß es sich des Massenmords nicht mit dem
gebührenden Ernst und der gehörigen Pietät angenommen hatte.
Wie Weiss, dem die Rolle des Opfers zugedacht war, sich literarisch zunächst in
die Perspektive der Täter eindachte (Die Ermittlung), so spielte auch Hilsenrath
mit dem Rollenwechsel: sein Nazi nimmt nach dem Krieg die Rolle des jüdischen
Friseurs ein, den er (u.a.) ermordet hatte. Aber erst Hilsenraths Märchen bringt
auch tiefgehende poetologische Gemeinsamkeiten zum Vorschein. Wie in Weiss'
ästhetik des Widerstands ist der Ausgangspunkt des Schreibens die Konfrontation
mit dem äußersten Schrecken, hier wie dort entsteht alles aus Folter und
Schmerz, hier wie dort geht es um das "Erschreiben" einer Lebensgeschichte gegen
den Versuch ihrer Auslöschung, hier wie dort geht es darum, Unvorstellbares
vorstellbar zu machen, hier wie dort geht es um Geschichte, die ihre letzte
Wahrheit aber doch nur im fiktiven Genre preisgibt.
Beide Autoren, schreibwütig der eine wie der andere, schreiben an gegen die
Angst, angesichts des Schreckens zu versteinern wie Lots Weib. Ihre Schreibweise
ist freilich völlig verschieden. Weiss schwankt zwischen manischem
Benennenwollen und dem Versinken ins Unnennbare, von dem seine Notizbucher immer
wieder zeugen. Hilsenrath hingegen spaltet sich in der Einsamkeit seines
Selbstgesprächs und gewinnt im lakonischen Dialog der gespaltenen Hälften die
charakteristische Form seines Schreibens. Er kann gefragt werden, und es sind
Antworten möglich. Daß diese Form des Erzählens vom Antisemitismus gern als
"jüdisch" attackiert wurde, sollte nicht zur gutgemeinten ächtung der
Fragestellung führen, ob nicht hier der fabulierenden osteuropäischen
Literaturtradition eine Möglichkeit der Darstellung des Grauens erschrieben
wurde, die sich Weiss bei vergleichbaren poetologischen Ausgangspunkten über die
Aneignung der westeuropäischen Avantgardetradition erschloß.
Ein weiterer Unterschied zu Weiss ist unübersehbar: In Hilsenraths Romanen gibt
es keinen Widerstand. Das ist auch die augenfälligste thematische wie
erzählperspektivische Differenz zu Werfels (damals sehr erfolgreichem) Roman Die
vierzig Tage des Musa Dagh aus dem Jahre 1933, der Hilsenraths Märchen in der
literarischen Behandlung des Genozids an den Armeniern vorausging. Der Held des
Romans ein zunächst seinem Volk entfremdeter "europäisierter" Intellektueller,
reift zum tatkräftigen Führer des bewaffneten Widerstands einiger armenischer
Gemeinden gegen die jungtürkischen Mördergruppen. Bei Hilsenrath reift nichts,
sondern schwärt allenfalls; die Tage, von denen er erzählt, sind Nächte.
Jedenfalls ist klar, daß sich Hilsenraths Fabuliertalent nicht zur Stützung der
These eignet, überkommene "erzählende" Formen bis hin zu "erzählenden"
Fernsehserien wie Holocaust seien eben doch - der theoretischen Intention von
Adornos bekanntem Verdikt entgegen - geeignet zur Darstellung des Genozids. Man
täusche sich nicht: Hilsenrath setzt auf Schock, statt auf Einfühlung; auf
Wahrnehmung statt auf Sentimentalität ("Der letzte Gedanke hatte versucht, die
Angst seines Vaters nachzuempfinden, aber da er schon jenseits der Angst weilte,
konnte er nichts empfinden"), er zielt aufs äußerste statt aufs Innerste. Sein
Märchen ist eine moderne Form.
Sicher, was im Bereich der Literatur schnell Erfolg hat, hat selten Wirkung. Das
ist schlecht für gute Autoren, aber gut für gute Literatur. Aber nach 25
Jahren (Nacht erschien zuerst 1964) wäre es an der Zeit, zu sagen, was ist: Edgar
Hilsenrath gehört zu den wenigen bedeutenden deutschsprachigen Autoren der
Gegenwart.
Frankfurter Rundschau, 19.Aug. 1989, Seite ZB 4