Lieber Herr Hilsenrath, ich habe ein schönes, kluges, berührendes Buch
über eine gestorbene Welt zu lesen bekommen, die dank dieses Buches noch
einmal wiedererstand.
Es war mir vergönnt, in den paar Tagen der Lektüre Ihres Romans Jossel
Wassermanns Heimkehr die reine Luft des alten Europa zu atmen, das vor meinen
eigenen Augen ermordet wurde und nun, dank Ihnen, Herr Hilsenrath,
wiederauferstand und so lebendig erscheint wie in den Tagen meiner Jugend, so
schön, so froh, so voll Zärtlichkeit und voll dieser geheimnisvollen
inneren Unruhe, ohne die das menschliche Leben keinen Wert hat.
Herr Hilsenrath, in meinen Augen sind Sie ein Zauberer, denn Ihre
Beschwörungen rufen aus der Welt der Geister lebendige Menschen hervor,
Menschen aus Fleisch und Blut, gute, einfache, ehrliche Menschen. Ich verstehe
nicht viel von Literatur, denn wenn ich etwas davon verstünde, besässe
ich wohl nicht den Mut, Romane und andere Texte zu schreiben, die mir im Schlaf
von Wichtelmännchen diktiert werden oder vielleicht auch von meinen Teufeln
und Engeln.
Ich verstehe nicht viel von Literatur, denn ich betrachte sie als großes
Geheimnis, als eine Art Herausforderung, die der Mensch Gott hinwirft, indem er
vor ihn hintritt und sagt: Lieber Herrgott, Du hast die Welt erschaffen, und die
erscheint mir eng und dumm, Du hast die Menschen erschaffen, und die erscheinen
mir unglücklich und verloren; und nun will ich Dir einmal zeigen, wie weit
und schön die Welt sein könnte, wie edel und von Liebe erfüllt
die Menschen sein könnten, dies ist meine Welt, die ich in einen Roman
gepackt habe, lies das, vielleicht kannst Du aus dieser Lektüre etwas
lernen, wenn Du Deine nächste Welt erschaffst.
Ich verstehe also nicht viel vom Geheimnis des Schaffens, Herr Hilsenrath, und
daher werden die schriftgelehrten Kritiker vielleicht ein ganz anderes Urteil
über Ihr Buch fällen als ich. Vielleicht werden sie urteilen, dieses
sei altmodisch, oder Es besitze keinen besonders tiefen intellektuellen Inhalt,
weil es nur von so banalen Dingen handelt wie vom Leben und vom Tod, von Gut und
Böse, von Ehrlichkeit und Niedertracht, nicht aber von unserem Egoismus,
von unseren Manien, unserer Glatze, unserer Geliebten, und es liefere auch nicht
den Stoff, um sich an jenen ausgesuchten Sprachspielen zu delektieren, in denen
sich die hochgestochenen Literaturen auf beiden Seiten des Ozeans seit einiger
Zeit ergehen.
Sie, lieber Herr Hilsenrath, haben das gewöhnlichste Buch in der Welt
geschrieben, ohne jeden philosophischen Anspruch, dafür mit Punkten und
Beistrichen, ohne den Wunsch, irgendjemanden zu belehren, wie klug und
talentiert Sie doch sind; dafür voll Demut angesichts jener weiten,
bezaubernden Landschaften der Welt, die einst den Menschen zum Erleben und
Erinnern gegeben wurden.
Sie haben ein ganz gewöhnliches Buch geschrieben, ein Buch, wie es
früher Turgenjew, Fontane, Balzac oder Joseph Roth schrieben. Doch das
wichtigste ist, daß Sie eine ermordete Welt beschrieben, die andere vor
Ihnen nicht beschrieben haben, weil diese in der Zeit vor dem großen
Morden lebten und schufen. Diese anderen wußten noch nicht alles über
den Menschen, sie konnten seine Zukunft nicht vorhersehen, denn sie kannten
nicht die menschlichen Möglichkeiten aus der Praxis und konnten sich gar
nicht alles ausmalen, was im Menschen steckt, und zwar, so fürchte ich,
Herr Hilsenrath, ausnahmslos in jedem Menschen.
Sie und ich, wir beide gehören dieser verfluchten Generation an, die zur
Genüge erfahren hat, wozu der Mensch imstande ist. In dieser Hinsicht sind
wir vielleicht sogar klüger als Tolstoi oder Shakespeare, doch das ist eine
verfluchte und nutzlose Klugheit, weil sie auf keinem fruchtbaren Feld wuchs,
sondern auf den von Unkraut überwucherten, vergessenen Friedhöfen
Europas, und eigentlich ist diese Klugheit mit der Asche und dem Rauch der
Krematorien in die Welt gekommen, was sie zu einer flüchtigen Klugheit
macht, die unsere Nächsten ziemlich kaltläßt.
Aus einer solchen Weisheit lassen sich keine integrierten Schaltkreise bauen,
ja, nicht einmal ganz gewöhnliche Sessel. Und doch hoffe ich, daß
diese Weisheit für Menschen mit Gedanken und Gefühlen eine gewisse
Nahrung darstellt, ein bitteres Brot der Erinnerung unseres 20. Jahrhunderts.
Herr Hilsenrath, Sie schreiben in Ihrem Roman über Juden, die ich als Pole
liebte, und auch über Polen, die ich immer noch liebe, obwohl ich wie kaum
ein zweiter ihre Sünden, Schwächen und auch das Böse kenne, das
durch das Unglück vieler vergangener Jahrhunderte in ihnen aufgestaut
wurde. Vielleicht ist mir gerade deshalb Ihr Roman so nahe gegangen und hat mir
solche freudigen Schmerzen oder auch schmerzliche Freuden bereitet.
Sie haben ein schönes Buch über eine gestorbene Welt geschrieben, die
für mich nie gestorben ist, denn schließlich lebe ich heute noch und
trage ihre Bilder in mir. Der Genauigkeit halber muß ich hinzufügen,
daß ich nie in diesem Winkel Europas war, den Sie beschreiben. Ich bin in
Warschau geboren und aufgewachsen, wo assimilierte und gebildete Juden lebten,
die der Orthodoxie fernstanden, aber auch Juden, die den von Ihnen beschriebenen
glichen. Ich habe Freunde, die aus dem ehemaligen Galizien stammen und die
dortigen Juden kannten, und daher weiß ich, daß Ihre Erzählung
auch eine Erzählung über Hunderttausende Menschen jener Region Europas
ist, über die Menschen vom Pruth und von der Weichsel, aus Galizien und
Maso-wien, Litauen und Kleinpolen, Belorußland und den Heiligenkreuzer
Bergen. Gewiß gibt es in Wilna oder Lublin andere Speisen, die Men-schen
tragen anders geformte Hüte und andere Strümpfe. Aber sie dachten
ähnlich, sie hatten viel von jener sanften, doch irgendwie düsteren
Weisheit an sich, die aus den Seiten Ihres Buches strömt.
Nicht alles, worüber sie scheiben, verbindet meine Erinnerung mit ihrer,
doch das ist selbstverständlich, denn ihres ist ein jüdisches und
meines ein polnisches Gedächtnis. Unsere Erinnerungen sind verschieden,
obwohl unsere Katastrophen ähnlich waren. Hier möchte ich fast im
selben Atemzug hinzufügen, daß es Polen gibt, die der Ansicht sind,
die Polen besäßen ein Monopol auf das Leiden. Diese dummen Polen sind
also der Ansicht, sie hätten am schlimmsten gelitten, und die noch
dümmeren fügen hinzu, daß Hitler ihnen das gleiche Los bereitet
hätte wie den Juden. Das ist eine ganz ordinäre Fälschung, denn
die Juden sollten ausgerottet werden und wurden auch ausgerottet, während
die Polen nur dezimiert wurden. Unter diesen von der Dezimierung bedrohten Polen
fanden sich unwürdige Menschen, die sich, in Sorge um ihre eigene Haut und
vielleicht auch wegen ihres Antisemitismus, unmenschlich benahmen. Und es ist
Sache Polens und der Polen, diese Dinge laut auszusprechen, denn die Welt ist
nur dann zu ertragen, wenn jeder vor allem von den eigenen Sünden spricht.
Es ist hingegen nicht gut, wenn die Menschen ständing über die
Sünden anderer sprechen, während sie über die eigenen Schweigen
breiten. Dieser Gewohnheit begegne ich manchmal in Deutschland, wo seit einiger
Zeit die weitverbreitete Meinung herrscht, die Polen seien schlimme Antisemiten
gewesen, während die Deutschen selber - mit einigen Ausnahmen
natürlich - die Juden geliebt und geachtet hätten. Auch bei manchen
Juden, bei denen der Herrgott mit dem Verstand gespart hat, finde ich diese
Ansicht. Ich diskutiere nicht gern über diese Fragen. Es ist nicht meine
Aufgabe, ständig zu wiederholen, wer den Holocaust geplant und in die Tat
umgesetzt hat. Es ist auch nicht meine Aufgabe, die Juden an jene Juden zu
erinnern, die mit dem Vernichtungsapparat des Dritten Reichs kollaborierten. Das
ist Sache der Juden selbst.
Diese Anmerkungen schreibe ich am Rande Ihres schönen Buches, das die
jüdische Erinnerung widerspiegelt. In diesem Spiegel finde ich auch ein
großes Stück meiner selbst. Es ist nicht meine Erinnerung, wie ich
schon feststellte, aber ein wichtiger Teil derselben. Die Landschaft ist nicht
identisch, doch sehr ähnlich. Dieselbe Sonne, dieselben Bäume, doch
die Schatten fallen anders auf die Wiese. Ihre sind länger, Herr
Hilsenrath, weil der Tag Ihrer Welt für immer erlosch. Meine Welt wurde,
zum Glück, in der Stunde der Dämmerung gerettet, als noch der Schatten
einer Hoffnung zu sehen war.
Lieber Herr Hilsenrath, manche Menschen werden weinen, wenn sie Ihr Buch lesen.
Und das ist gut so, denn unsere Zeit braucht Tränen, um nicht zu vergessen,
was wir unwiederbringlich verloren haben. Ich jedoch habe während der
Lektüre nicht geweint, denn Sie beschreiben in gewisser Weise mein eigenes
Schicksal, obwohl ich kein Jude bin, sondern ein Pole, der die Juden geliebt
hat, weil sie einen wichtigen Teil seiner Heimat ausmachten. über mein
eigenes Schicksal habe ich schon vor langer Zeit Tränen vergossen, jetzt
sind meine Augen trocken.
"Weil du aber lau bist, werde ich dich ausspeien" - sagt die Schrift
Ich war nie lau im Angesicht dessen, was uns im 20. Jahrhundert widerfuhr. Auch
Sie waren nicht lau. Sie haben ein Buch geschrieben, durch das die Lava
glühender Liebe strömt. Ein heißes Buch. Solche Bücher
entstehen aus dem Leiden, und daher sind sie voll Sanftheit, Zärtlichkeit,
Verständnis und Mitleid. Weder Sie, lieber Herr Hilsenrath, noch ich
müssen heute mehr weinen. Doch es wäre gut, wenn jene weinten, die
damals lau waren. Denn vielleicht sehen sie durch die Tränen ihren Engel.
© Diogenes Verlag. Mit freundlicher Erlaubnis des
Diogenes Verlag, Zürich
Mit freundlicher Genehmigung von Karl-Heinz Götze