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Jossel Wassermanns Heimkehr

Unsere Zeit braucht Tränen

Ein Brief an den Schriftsteller Edgar Hilsenrath
Von Andrzej Szczypiorski

Lieber Herr Hilsenrath, ich habe ein schönes, kluges, berührendes Buch über eine gestorbene Welt zu lesen bekommen, die dank dieses Buches noch einmal wiedererstand.

Es war mir vergönnt, in den paar Tagen der Lektüre Ihres Romans Jossel Wassermanns Heimkehr die reine Luft des alten Europa zu atmen, das vor meinen eigenen Augen ermordet wurde und nun, dank Ihnen, Herr Hilsenrath, wiederauferstand und so lebendig erscheint wie in den Tagen meiner Jugend, so schön, so froh, so voll Zärtlichkeit und voll dieser geheimnisvollen inneren Unruhe, ohne die das menschliche Leben keinen Wert hat.

Herr Hilsenrath, in meinen Augen sind Sie ein Zauberer, denn Ihre Beschwörungen rufen aus der Welt der Geister lebendige Menschen hervor, Menschen aus Fleisch und Blut, gute, einfache, ehrliche Menschen. Ich verstehe nicht viel von Literatur, denn wenn ich etwas davon verstünde, besässe ich wohl nicht den Mut, Romane und andere Texte zu schreiben, die mir im Schlaf von Wichtelmännchen diktiert werden oder vielleicht auch von meinen Teufeln und Engeln.

Ich verstehe nicht viel von Literatur, denn ich betrachte sie als großes Geheimnis, als eine Art Herausforderung, die der Mensch Gott hinwirft, indem er vor ihn hintritt und sagt: Lieber Herrgott, Du hast die Welt erschaffen, und die erscheint mir eng und dumm, Du hast die Menschen erschaffen, und die erscheinen mir unglücklich und verloren; und nun will ich Dir einmal zeigen, wie weit und schön die Welt sein könnte, wie edel und von Liebe erfüllt die Menschen sein könnten, dies ist meine Welt, die ich in einen Roman gepackt habe, lies das, vielleicht kannst Du aus dieser Lektüre etwas lernen, wenn Du Deine nächste Welt erschaffst.

Ich verstehe also nicht viel vom Geheimnis des Schaffens, Herr Hilsenrath, und daher werden die schriftgelehrten Kritiker vielleicht ein ganz anderes Urteil über Ihr Buch fällen als ich. Vielleicht werden sie urteilen, dieses sei altmodisch, oder Es besitze keinen besonders tiefen intellektuellen Inhalt, weil es nur von so banalen Dingen handelt wie vom Leben und vom Tod, von Gut und Böse, von Ehrlichkeit und Niedertracht, nicht aber von unserem Egoismus, von unseren Manien, unserer Glatze, unserer Geliebten, und es liefere auch nicht den Stoff, um sich an jenen ausgesuchten Sprachspielen zu delektieren, in denen sich die hochgestochenen Literaturen auf beiden Seiten des Ozeans seit einiger Zeit ergehen.

Sie, lieber Herr Hilsenrath, haben das gewöhnlichste Buch in der Welt geschrieben, ohne jeden philosophischen Anspruch, dafür mit Punkten und Beistrichen, ohne den Wunsch, irgendjemanden zu belehren, wie klug und talentiert Sie doch sind; dafür voll Demut angesichts jener weiten, bezaubernden Landschaften der Welt, die einst den Menschen zum Erleben und Erinnern gegeben wurden.

Sie haben ein ganz gewöhnliches Buch geschrieben, ein Buch, wie es früher Turgenjew, Fontane, Balzac oder Joseph Roth schrieben. Doch das wichtigste ist, daß Sie eine ermordete Welt beschrieben, die andere vor Ihnen nicht beschrieben haben, weil diese in der Zeit vor dem großen Morden lebten und schufen. Diese anderen wußten noch nicht alles über den Menschen, sie konnten seine Zukunft nicht vorhersehen, denn sie kannten nicht die menschlichen Möglichkeiten aus der Praxis und konnten sich gar nicht alles ausmalen, was im Menschen steckt, und zwar, so fürchte ich, Herr Hilsenrath, ausnahmslos in jedem Menschen.

Sie und ich, wir beide gehören dieser verfluchten Generation an, die zur Genüge erfahren hat, wozu der Mensch imstande ist. In dieser Hinsicht sind wir vielleicht sogar klüger als Tolstoi oder Shakespeare, doch das ist eine verfluchte und nutzlose Klugheit, weil sie auf keinem fruchtbaren Feld wuchs, sondern auf den von Unkraut überwucherten, vergessenen Friedhöfen Europas, und eigentlich ist diese Klugheit mit der Asche und dem Rauch der Krematorien in die Welt gekommen, was sie zu einer flüchtigen Klugheit macht, die unsere Nächsten ziemlich kaltläßt.

Aus einer solchen Weisheit lassen sich keine integrierten Schaltkreise bauen, ja, nicht einmal ganz gewöhnliche Sessel. Und doch hoffe ich, daß diese Weisheit für Menschen mit Gedanken und Gefühlen eine gewisse Nahrung darstellt, ein bitteres Brot der Erinnerung unseres 20. Jahrhunderts.

Herr Hilsenrath, Sie schreiben in Ihrem Roman über Juden, die ich als Pole liebte, und auch über Polen, die ich immer noch liebe, obwohl ich wie kaum ein zweiter ihre Sünden, Schwächen und auch das Böse kenne, das durch das Unglück vieler vergangener Jahrhunderte in ihnen aufgestaut wurde. Vielleicht ist mir gerade deshalb Ihr Roman so nahe gegangen und hat mir solche freudigen Schmerzen oder auch schmerzliche Freuden bereitet.

Sie haben ein schönes Buch über eine gestorbene Welt geschrieben, die für mich nie gestorben ist, denn schließlich lebe ich heute noch und trage ihre Bilder in mir. Der Genauigkeit halber muß ich hinzufügen, daß ich nie in diesem Winkel Europas war, den Sie beschreiben. Ich bin in Warschau geboren und aufgewachsen, wo assimilierte und gebildete Juden lebten, die der Orthodoxie fernstanden, aber auch Juden, die den von Ihnen beschriebenen glichen. Ich habe Freunde, die aus dem ehemaligen Galizien stammen und die dortigen Juden kannten, und daher weiß ich, daß Ihre Erzählung auch eine Erzählung über Hunderttausende Menschen jener Region Europas ist, über die Menschen vom Pruth und von der Weichsel, aus Galizien und Maso-wien, Litauen und Kleinpolen, Belorußland und den Heiligenkreuzer Bergen. Gewiß gibt es in Wilna oder Lublin andere Speisen, die Men-schen tragen anders geformte Hüte und andere Strümpfe. Aber sie dachten ähnlich, sie hatten viel von jener sanften, doch irgendwie düsteren Weisheit an sich, die aus den Seiten Ihres Buches strömt.

Nicht alles, worüber sie scheiben, verbindet meine Erinnerung mit ihrer, doch das ist selbstverständlich, denn ihres ist ein jüdisches und meines ein polnisches Gedächtnis. Unsere Erinnerungen sind verschieden, obwohl unsere Katastrophen ähnlich waren. Hier möchte ich fast im selben Atemzug hinzufügen, daß es Polen gibt, die der Ansicht sind, die Polen besäßen ein Monopol auf das Leiden. Diese dummen Polen sind also der Ansicht, sie hätten am schlimmsten gelitten, und die noch dümmeren fügen hinzu, daß Hitler ihnen das gleiche Los bereitet hätte wie den Juden. Das ist eine ganz ordinäre Fälschung, denn die Juden sollten ausgerottet werden und wurden auch ausgerottet, während die Polen nur dezimiert wurden. Unter diesen von der Dezimierung bedrohten Polen fanden sich unwürdige Menschen, die sich, in Sorge um ihre eigene Haut und vielleicht auch wegen ihres Antisemitismus, unmenschlich benahmen. Und es ist Sache Polens und der Polen, diese Dinge laut auszusprechen, denn die Welt ist nur dann zu ertragen, wenn jeder vor allem von den eigenen Sünden spricht.

Es ist hingegen nicht gut, wenn die Menschen ständing über die Sünden anderer sprechen, während sie über die eigenen Schweigen breiten. Dieser Gewohnheit begegne ich manchmal in Deutschland, wo seit einiger Zeit die weitverbreitete Meinung herrscht, die Polen seien schlimme Antisemiten gewesen, während die Deutschen selber - mit einigen Ausnahmen natürlich - die Juden geliebt und geachtet hätten. Auch bei manchen Juden, bei denen der Herrgott mit dem Verstand gespart hat, finde ich diese Ansicht. Ich diskutiere nicht gern über diese Fragen. Es ist nicht meine Aufgabe, ständig zu wiederholen, wer den Holocaust geplant und in die Tat umgesetzt hat. Es ist auch nicht meine Aufgabe, die Juden an jene Juden zu erinnern, die mit dem Vernichtungsapparat des Dritten Reichs kollaborierten. Das ist Sache der Juden selbst.

Diese Anmerkungen schreibe ich am Rande Ihres schönen Buches, das die jüdische Erinnerung widerspiegelt. In diesem Spiegel finde ich auch ein großes Stück meiner selbst. Es ist nicht meine Erinnerung, wie ich schon feststellte, aber ein wichtiger Teil derselben. Die Landschaft ist nicht identisch, doch sehr ähnlich. Dieselbe Sonne, dieselben Bäume, doch die Schatten fallen anders auf die Wiese. Ihre sind länger, Herr Hilsenrath, weil der Tag Ihrer Welt für immer erlosch. Meine Welt wurde, zum Glück, in der Stunde der Dämmerung gerettet, als noch der Schatten einer Hoffnung zu sehen war.

Lieber Herr Hilsenrath, manche Menschen werden weinen, wenn sie Ihr Buch lesen. Und das ist gut so, denn unsere Zeit braucht Tränen, um nicht zu vergessen, was wir unwiederbringlich verloren haben. Ich jedoch habe während der Lektüre nicht geweint, denn Sie beschreiben in gewisser Weise mein eigenes Schicksal, obwohl ich kein Jude bin, sondern ein Pole, der die Juden geliebt hat, weil sie einen wichtigen Teil seiner Heimat ausmachten. über mein eigenes Schicksal habe ich schon vor langer Zeit Tränen vergossen, jetzt sind meine Augen trocken.

"Weil du aber lau bist, werde ich dich ausspeien" - sagt die Schrift Ich war nie lau im Angesicht dessen, was uns im 20. Jahrhundert widerfuhr. Auch Sie waren nicht lau. Sie haben ein Buch geschrieben, durch das die Lava glühender Liebe strömt. Ein heißes Buch. Solche Bücher entstehen aus dem Leiden, und daher sind sie voll Sanftheit, Zärtlichkeit, Verständnis und Mitleid. Weder Sie, lieber Herr Hilsenrath, noch ich müssen heute mehr weinen. Doch es wäre gut, wenn jene weinten, die damals lau waren. Denn vielleicht sehen sie durch die Tränen ihren Engel.

 

© Diogenes Verlag. Mit freundlicher Erlaubnis des Diogenes Verlag, Zürich

Mit freundlicher Genehmigung von Karl-Heinz Götze