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Jossel Wassermanns Heimkehr

Der Hering im Maul von Franz Josef

Von Karl-Heinz Götze

» 'Ich hab es schon zu oft erzählt', sagte der Wasserträger. 'Dann erzähl es eben noch einmal', sagte der Advokat. « Die Geschichten, die Edgar Hilsenrath erzählt, sind immer die gleichen. Aber das spricht nicht unbedingt gegen den Erzähler: "Man kann die wirklichen Geschichten immer wieder erzählen und immer wieder ganz anders." Sicher jedenfalls ist, daß er die Geschichte(n) immer wieder vom gleichen Augenblick her entfaltet, dem letzten. Sein vor drei Jahren veröffentlichter Roman Das Märchen vom letzten Gedanken erzählte vom ersten Genozid dieses Jahrhunderts, dem am armenischen Volk. Erzählt wurde das "Märchen" als Geschichte von Thovma Khatisian, der den Völkermord überlebte und über Sibirien ins Schweizer Exil kam, von wo ihn der Autor 1940 nach Polen aufbrechen ließ, um mit seinem Schweizer Paß jüdisches Eigentum zu retten. Als ob ein Schweizer Paß in einem solchen Fall etwas helfen würde. Nachdem er ihn in Richtung auf einen anderen, auf den größten Genozid des Jahrhunderts hatte aufbrechen lassen, konnte Hilsenrath natürlich nichts mehr für seinen Helden tun - außer: seine Geschichte erzählen.

Jossel Wassermann geht es ähnlich. Jossel Wassermann ist Jude. Man ahnt: Seine "Heimkehr" ist auch eine Geschichte vom letzten Augenblick. Auch ansonsten hat Jossels Lebenslauf viel zu tun mit dem von Thovma Khatisian. Die Juden und die Armenier "sind fast zum Verwechseln. Es ist unglaublich." Jossel stammt aus Pohodna, einem jüdischen Schtetl nahe Czernowitz, von dort wo einmal k. u. k. österreich und Rußland weitgehend unbemerkt ineinander übergingen, dann später Rumänien Polen und die Sowjetunion, jetzt die Ukraine und Rumänien und Polen. Die Wirren des Ersten Weltkrieges verschlagen ihn vermittels einer absurden Heldentat nach Italien und von dort über einen See in die Schweiz, wo er buchstäblich nackt ankommt, weil die Schlepper wußten, daß ein Jude immer einen Notgroschen im Futter seiner Jacke eingenäht trägt. Zum Glück ist Jossel beschnitten, so daß er von den Juden am Ufer erkannt, zunächst mit dem Nötigsten und dann sogar mit der fetten Erbin einer Matzenfabrik versorgt wird, die bald stirbt und Jossel reich zurückläßt.

Der Erzähler geht besser mit ihm um als mit Thovma Khatisian. Er läßt ihn sterben, bevor er ihn zurück gen Osten schickt. Das ist im August 1939. Da erzählt Jossel Wassermann, der weiß, daß es ans Sterben geht, seinem Advokaten, seinem Notar und einer Sekretärin seine Lebensgeschichte. Sekretärin deshalb, damit die Geschichte nicht verlorengehe und später vom Talmudschreiber ins reine gebracht werden könne; Advokat und Notar deshalb, damit Jossel seinem letzten Willen gemäß als wohleingesargte Leiche in die Heimat zurückgebracht werde (per Auto übrigens, denn er hat Flugangst). Und natürlich, damit der Wasserträger Jankel aus Pohodna, sein letzter Verwandter, die 80 000 Schweizer Franken und dreiunddreißig Rappen bekomme, die Jossel hinterläßt.

Jankel aber befindet sich mit den Juden aus dem Schtetl Pohodna in dem verschlossenen Eisenbahnwaggon, der für die Gasöfen bestimmt ist. Durch fahrplanbedingte Verzögerungen wird der jedoch noch für ein paar Tage auf ein Rangiergleis des Todes geschoben, so daß sich die "Quasselstimmen" auf dem Dach des Waggons die Geschichten merken können, die von den eingeschlossenen Insassen zu ihnen aufsteigen. So etwa, wie sich Edgar Hilsenrath, geboren 1926, die Geschichten merkte, die er zwischen 1941 und 1944 ziemlich gleicherorts im Getto von Moghilev/Poldolsk erlebte, wo die rumänischen Verbündeten der Nazis dem Tod aus Deutschland zur Hand gingen.

Davon hat Hilsenrath schon in seinem ersten, unbeachtet gebliebenen Roman Nacht (1964) berichtet. Jetzt entfaltet er aus dem gleichen Augenblick und der gleichen Region heraus eine lange Geschichte, die Geschichte des südosteuropäischen Judentums seit dem 18. Jahrhundert, so wie sie auf Jossel Wassermann und die "Quasselstimmen", auf die "Stimmen des wahren Erinnerns" gekommen ist. Geschichte in vielen Geschichten also und zudem vielstimmig erzählt, nicht so wie die "Stimmen der Geschichtsforscher" zu sprechen pflegen. Aber wahr. So wahr, wie Geschichten eben sein können. "Ja, so war's. So oder so ähnlich."

Das kann man nicht nacherzählen. Es sei denn, man hätte ein paar hundert Seiten zur Verfügung. Der Erzähler weigert sich nämlich, sich auf das Wesentliche zu beschränken, und man sollte ihm nicht in den Rücken fallen. Außerdem - was wäre das Wesentliche? "Das Wesentliche ist", so sagt einmal der Jossel Wassermann, "daß ich rede, denn wer redet, ist nicht tot". Also erzählt er, was ein Cheder ist, welche Klassen es im Schtetl gab, wie man die Poijes trug, wie der Zigeuner den Hahn gefangen hat; er erzählt, was die Wasserträger taten und die Rebben, wie im Schlachthaus bei Reb Wichnitzer koscher geschlachtet und wie man verheiratet wurde; er erzählt, daß man mit 13 schon volljährig war ("weil das Schwänzchen schon steht").

Er kommt von Hölzchen zu Stöckchen und läßt von denen keines aus. Auch nicht den Kochlöffelstiel, mit dem Rebecca, Jossels erste Frau, schon im zarten Alter von 11 Jahren dem Jucken zwischen ihren Beinen abgeholfen hatte, so daß sie sich in der Hochzeitsnacht als beschädigt erwies. Wegen dieses Kochlöffelstiels wurde Jossel übrigens fortan mit einem gewissen Recht von den Leuten im Schtetl "Josef der Zweite" genannt, denn schließlich war ja der Kochlöffel der Erste gewesen.

Man sieht: Die Geschichten der kleinen Leute sind in diesem Buch nicht korrekt von der Geschichte der gekrönten Häupter getrennt, wie auch der Fall des Kaisers Franz Josef beweist, der anläßlich eines Manövers einmal in die Kneipe der Großeltern vom Jossel einkehrte und dort fast an einem Hering erstickt wäre, wenn die Großmutter ihm diesen nicht wieder, wie sie gesagt haben soll, "aus dem trefenen Maul" gezogen hätte. Voller Dankbarkeit soll der Kaiser daraufhin den Juden seines Reiches die rechtliche Gleichstellung versprochen und dieses Versprechen ein paar Jahre später auch gehalten haben. "Ja, so war's. So oder so ähnlich."

Nein, nacherzählen kann man das Buch nicht. Außerdem würde man das auch kaum so gut hinkriegen wie Hilsenrath. Der erzählt, als habe er nie etwas von der Krise des Erzählens gehört, dabei aber gewiß nicht naiv, sondern in Kenntnis all' dessen, was in diesem Jahrhundert das Erzählen unmöglich zu machen versucht hat. So eben, wie es die Leute damals in Pohodna am Jossel lobten: "Er kann Geschichten erzählen wie ein Hausierer oder die Einlauffrau oder der Friseur oder der Rebbe, wenn er getrunken hat." Welcher lebende deutsche Dichter könnte das sonst?

Diese Fabulierweise könnte schon etwas mit dem osteuropäischen Judentum, mit Schtetl und Bukowina zu tun haben, wie unfreiwillig auch der vorliegende Roman zeigt: Die Kapitel, die im Schtetl spielen, sind dichter und reicher als das letzte Drittel des Romans, in dem wir Jossel Wassermann nach Italien und in die Schweiz folgen. Das "wahre Erinnern" braucht keinen aktuellen Anlaß. Dennoch ist diesem Erinnern hier eine seltsame Aktualität zugewachsen. Hilsenraths Buch erscheint in einem Augenblick, in dem die Mauer um Osteuropa zerbröckelt ist und den Blick wieder freigibt - den Blick der Geostrategen der ökonomie wie den Blick der Erinnerung auf ein versunkenes Nebeneinander verschiedener Völker, Nationalitäten und Religionen, das es einmal in der Bukowina gab.

Das war nicht idyllisch, nicht gewalt- aber immerhin doch pogromfrei. Von den historischen Schrecken des 20. Jahrhunderts her gesehen erscheint dieser Flecken im maroden Reich von Franz Josef beinahe wie eine Hoffnung. Die Juden jedenfalls, so zeigt uns die Geschichte von Jossel Wassermann, hatten vom Verfall des morschen k. u. k.-Imperiums, vom Traum der osteuropäischen Völker von Selbständigkeit nichts zu erwarten als Pogrome. "Das sind keine Träume... das sind Alpträume." Die Geschichte wiederholt sich, "immer wieder... und immer wieder ganz anders". Besonders heute, besonders in Osteuropa. Die Schuld des Geschichtenerzählers ist das nicht.

 

Frankfurter Rundschau, 19. Juni 1993, ZB 4

Mit freundlicher Genehmigung von Karl-Heinz Götze