» 'Ich hab es schon zu oft erzählt', sagte der Wasserträger.
'Dann erzähl es eben noch einmal', sagte der Advokat. « Die
Geschichten, die Edgar Hilsenrath erzählt, sind immer die gleichen. Aber
das spricht nicht unbedingt gegen den Erzähler: "Man kann die
wirklichen Geschichten immer wieder erzählen und immer wieder ganz
anders." Sicher jedenfalls ist, daß er die Geschichte(n) immer wieder
vom gleichen Augenblick her entfaltet, dem letzten. Sein vor drei Jahren
veröffentlichter Roman Das Märchen vom letzten Gedanken erzählte
vom ersten Genozid dieses Jahrhunderts, dem am armenischen Volk. Erzählt
wurde das "Märchen" als Geschichte von Thovma Khatisian, der den
Völkermord überlebte und über Sibirien ins Schweizer Exil kam,
von wo ihn der Autor 1940 nach Polen aufbrechen ließ, um mit seinem
Schweizer Paß jüdisches Eigentum zu retten. Als ob ein Schweizer
Paß in einem solchen Fall etwas helfen würde. Nachdem er ihn in
Richtung auf einen anderen, auf den größten Genozid des Jahrhunderts
hatte aufbrechen lassen, konnte Hilsenrath natürlich nichts mehr für
seinen Helden tun - außer: seine Geschichte erzählen.
Jossel Wassermann geht es ähnlich. Jossel Wassermann ist Jude. Man ahnt:
Seine "Heimkehr" ist auch eine Geschichte vom letzten Augenblick. Auch
ansonsten hat Jossels Lebenslauf viel zu tun mit dem von Thovma Khatisian. Die
Juden und die Armenier "sind fast zum Verwechseln. Es ist
unglaublich." Jossel stammt aus Pohodna, einem jüdischen Schtetl nahe
Czernowitz, von dort wo einmal k. u. k. österreich und Rußland
weitgehend unbemerkt ineinander übergingen, dann später Rumänien
Polen und die Sowjetunion, jetzt die Ukraine und Rumänien und Polen. Die
Wirren des Ersten Weltkrieges verschlagen ihn vermittels einer absurden
Heldentat nach Italien und von dort über einen See in die Schweiz, wo er
buchstäblich nackt ankommt, weil die Schlepper wußten, daß ein
Jude immer einen Notgroschen im Futter seiner Jacke eingenäht trägt.
Zum Glück ist Jossel beschnitten, so daß er von den Juden am Ufer
erkannt, zunächst mit dem Nötigsten und dann sogar mit der fetten
Erbin einer Matzenfabrik versorgt wird, die bald stirbt und Jossel reich
zurückläßt.
Der Erzähler geht besser mit ihm um als mit Thovma Khatisian. Er
läßt ihn sterben, bevor er ihn zurück gen Osten schickt. Das ist
im August 1939. Da erzählt Jossel Wassermann, der weiß, daß es
ans Sterben geht, seinem Advokaten, seinem Notar und einer Sekretärin seine
Lebensgeschichte. Sekretärin deshalb, damit die Geschichte nicht
verlorengehe und später vom Talmudschreiber ins reine gebracht werden
könne; Advokat und Notar deshalb, damit Jossel seinem letzten Willen
gemäß als wohleingesargte Leiche in die Heimat zurückgebracht
werde (per Auto übrigens, denn er hat Flugangst). Und natürlich, damit
der Wasserträger Jankel aus Pohodna, sein letzter Verwandter, die 80 000
Schweizer Franken und dreiunddreißig Rappen bekomme, die Jossel
hinterläßt.
Jankel aber befindet sich mit den Juden aus dem Schtetl Pohodna in dem
verschlossenen Eisenbahnwaggon, der für die Gasöfen bestimmt ist.
Durch fahrplanbedingte Verzögerungen wird der jedoch noch für ein paar
Tage auf ein Rangiergleis des Todes geschoben, so daß sich die
"Quasselstimmen" auf dem Dach des Waggons die Geschichten merken
können, die von den eingeschlossenen Insassen zu ihnen aufsteigen. So etwa,
wie sich Edgar Hilsenrath, geboren 1926, die Geschichten merkte, die er zwischen
1941 und 1944 ziemlich gleicherorts im Getto von Moghilev/Poldolsk erlebte, wo
die rumänischen Verbündeten der Nazis dem Tod aus Deutschland zur Hand
gingen.
Davon hat Hilsenrath schon in seinem ersten, unbeachtet gebliebenen Roman Nacht
(1964) berichtet. Jetzt entfaltet er aus dem gleichen Augenblick und der
gleichen Region heraus eine lange Geschichte, die Geschichte des
südosteuropäischen Judentums seit dem 18. Jahrhundert, so wie sie auf
Jossel Wassermann und die "Quasselstimmen", auf die "Stimmen des
wahren Erinnerns" gekommen ist. Geschichte in vielen Geschichten also und
zudem vielstimmig erzählt, nicht so wie die "Stimmen der
Geschichtsforscher" zu sprechen pflegen. Aber wahr. So wahr, wie
Geschichten eben sein können. "Ja, so war's. So oder so
ähnlich."
Das kann man nicht nacherzählen. Es sei denn, man hätte ein paar
hundert Seiten zur Verfügung. Der Erzähler weigert sich nämlich,
sich auf das Wesentliche zu beschränken, und man sollte ihm nicht in den
Rücken fallen. Außerdem - was wäre das Wesentliche? "Das
Wesentliche ist", so sagt einmal der Jossel Wassermann, "daß ich
rede, denn wer redet, ist nicht tot". Also erzählt er, was ein Cheder
ist, welche Klassen es im Schtetl gab, wie man die Poijes trug, wie der Zigeuner
den Hahn gefangen hat; er erzählt, was die Wasserträger taten und die
Rebben, wie im Schlachthaus bei Reb Wichnitzer koscher geschlachtet und wie man
verheiratet wurde; er erzählt, daß man mit 13 schon volljährig
war ("weil das Schwänzchen schon steht").
Er kommt von Hölzchen zu Stöckchen und läßt von denen
keines aus. Auch nicht den Kochlöffelstiel, mit dem Rebecca, Jossels erste
Frau, schon im zarten Alter von 11 Jahren dem Jucken zwischen ihren Beinen
abgeholfen hatte, so daß sie sich in der Hochzeitsnacht als
beschädigt erwies. Wegen dieses Kochlöffelstiels wurde Jossel
übrigens fortan mit einem gewissen Recht von den Leuten im Schtetl
"Josef der Zweite" genannt, denn schließlich war ja der
Kochlöffel der Erste gewesen.
Man sieht: Die Geschichten der kleinen Leute sind in diesem Buch nicht korrekt
von der Geschichte der gekrönten Häupter getrennt, wie auch der Fall
des Kaisers Franz Josef beweist, der anläßlich eines Manövers
einmal in die Kneipe der Großeltern vom Jossel einkehrte und dort fast an
einem Hering erstickt wäre, wenn die Großmutter ihm diesen nicht
wieder, wie sie gesagt haben soll, "aus dem trefenen Maul" gezogen
hätte. Voller Dankbarkeit soll der Kaiser daraufhin den Juden seines
Reiches die rechtliche Gleichstellung versprochen und dieses Versprechen ein
paar Jahre später auch gehalten haben. "Ja, so war's. So oder so
ähnlich."
Nein, nacherzählen kann man das Buch nicht. Außerdem würde man
das auch kaum so gut hinkriegen wie Hilsenrath. Der erzählt, als habe er
nie etwas von der Krise des Erzählens gehört, dabei aber gewiß
nicht naiv, sondern in Kenntnis all' dessen, was in diesem Jahrhundert das
Erzählen unmöglich zu machen versucht hat. So eben, wie es die Leute
damals in Pohodna am Jossel lobten: "Er kann Geschichten erzählen wie
ein Hausierer oder die Einlauffrau oder der Friseur oder der Rebbe, wenn er
getrunken hat." Welcher lebende deutsche Dichter könnte das sonst?
Diese Fabulierweise könnte schon etwas mit dem osteuropäischen
Judentum, mit Schtetl und Bukowina zu tun haben, wie unfreiwillig auch der
vorliegende Roman zeigt: Die Kapitel, die im Schtetl spielen, sind dichter und
reicher als das letzte Drittel des Romans, in dem wir Jossel Wassermann nach
Italien und in die Schweiz folgen. Das "wahre Erinnern" braucht keinen
aktuellen Anlaß. Dennoch ist diesem Erinnern hier eine seltsame
Aktualität zugewachsen. Hilsenraths Buch erscheint in einem Augenblick, in
dem die Mauer um Osteuropa zerbröckelt ist und den Blick wieder freigibt -
den Blick der Geostrategen der ökonomie wie den Blick der Erinnerung auf
ein versunkenes Nebeneinander verschiedener Völker, Nationalitäten und
Religionen, das es einmal in der Bukowina gab.
Das war nicht idyllisch, nicht gewalt- aber immerhin doch pogromfrei. Von den
historischen Schrecken des 20. Jahrhunderts her gesehen erscheint dieser Flecken
im maroden Reich von Franz Josef beinahe wie eine Hoffnung. Die Juden
jedenfalls, so zeigt uns die Geschichte von Jossel Wassermann, hatten vom
Verfall des morschen k. u. k.-Imperiums, vom Traum der osteuropäischen
Völker von Selbständigkeit nichts zu erwarten als Pogrome. "Das
sind keine Träume... das sind Alpträume." Die Geschichte
wiederholt sich, "immer wieder... und immer wieder ganz anders".
Besonders heute, besonders in Osteuropa. Die Schuld des
Geschichtenerzählers ist das nicht.
Frankfurter Rundschau, 19. Juni 1993, ZB 4
Mit freundlicher Genehmigung von Karl-Heinz Götze