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Jossel Wassermanns Heimkehr

Heute ist der 31. August 1939

Edgar Hilsenrath schickt Jossel los, den Tod zu überlisten
Von Peter Zimmermann

"Heute ist der 31. August 1939", sagt der Notar am Krankenbett von Jossel Wassermann, der fernab seines Geburtsortes Pohodna in der Bukowina im Sterben liegt. "Die Luft", sagt der Notar weiter, "riecht nach Götterdämmerung." Er und der Rechtsanwalt Schnürzli sind zugegen, um das Testament jenes Mannes aufzusetzen, der es in der Schweiz mit der Herstellung koscherer Matzeknödel zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht hat und dem es bestimmt ist, an jenem Tag von der Welt abzutreten, an dem auch der Vernichtungsfeldzug gegen sein Volk einsetzt. "Das Ungeheuer aus Braunau", weiß Jossel Wassermann, "wird in wenigen Tagen - es können auch nur wenige Stunden sein - in Polen einmarschieren. Und das ist für mich ein Problem."

Das Problem des sterbenden Juden Jossel Wassermann ist die Tatsache, daß sein Leichnam nicht mehr wird heimkehren können ins Schtetl; nach Pohodna, wenn Hitler, und seine Offiziere sich einmal in Polen eingenistet haben. Also löst er das Problem dadurch, daß das Schtetl zu ihm kommt, indem er nämlich davon zu erzählen beginnt. Die Erinnerung ersetzt die Realität, und als Vertreter eines Volkes, das das Warten gelernt hat wie kein anderes, ist ihm die Hoffnung wichtiger als das Ziel.

So beginnt Jossel vom Schtetl zu erzählen und von den Wassermanns ebendort, wobei er nicht umhin kommt, gleich drei Generationen weit auszuholen. In komischen, traurigen, schauerlichen Anekdoten, die nur so aus ihm heraussprudeln, entwirft er eine ganze Kulturgeschichte des osteuropäischen Judentums. Seine Zuhörer, der Notar und der Rechtsanwalt - und mit ihnen der Leser - , erfahren alles, was einem Juden zwischen Geburt und Tod das Leben lebenswert macht, was ihn bedrückt, was er fürchtet und wie man stets den Kopf über Wasser behält. Und je mehr Jossel Wassermann erzählt, umso sturer erzählt er gegen das Sterben an. Solange er zu keinem Ende kommt, muß auch der Tod auf sein Geschäft warten.

"Ein Jude kann stundenlang mit dem lieben Gott reden und ihm alles berichten, und der liebe Gott hört immer zu", heißt es an einer Stelle. Und man stellt sich einen schmunzelnden lieben Gott vor, der etwas ungläubig der Geschichte lauscht, in der weiland der Kaiser Franz Josef in der Wassermannschen Schenke zu Pohodna einen Salzhering verspeisen wollte und sich dabei verschluckt hat. Jossels Urgroßmutter hat den Kaiser vorm Erstickungstod gerettet, worauf dieser als Belohnung allen Juden in der Monarchie die vollen Bürgerrechte zugesichert haben soll.

Einigermaßen skurril ist auch die Geschichte von Jossels Hochzeitsnacht, als er erfahren mußte, daß seine Braut keine Jungfrau mehr war, weil sie sich mit einem Kochlöffel selbst der Jungfernschaft entledigt hatte. Nicht zu vergessen die Geschichte von Jossels Abenteuer im Ersten Weltkrieg, als er 254 Italiener widerstandslos in die Gefangenschaft führte, weil er ihnen glaubhaft versicherte, daß es im Lager "Backhendl und Tafelspitz und Beinfleisch und Kren" zu essen gäbe. So reiht sich eine Anekdote an die andere, alle angesiedelt im Zwischenreich von Phantasie und Wirklichkeit - dem Spielplatz aller Schelme der Weltliteratur.

Edgar Hilsenrath. hat mit seinem Roman thematisch an ein beliebtes Genre der letzten Jahre angeschlossen: die Wiederentdeckung der Kultur der osteuropäischen Juden. Abgesehen von den Sachbüchern und Anthologien hat man ähnliches bereits bei Isaac und Israel Singer, Manes Sperber, Joseph Roth, Bruno Schulz oder Karl Emil Franzos gelesen. Eines aber ist Edgar Hilsenrath eigen, wie außer ihm nur George Tabori: der radikale Witz, der sich nicht davor scheut, selbst dem Tragischen eine komische Note abzugewinnen. Da wird niemand denunziert, da gibt es nur die Fähigkeit der Selbstironisierung, durch die das Leiden zwar nicht abgeschafft, aber doch erträglicher gemacht wird.

Die Geschichte von Jossel Wassermann hat noch eine kleine Rahmenhandlung, in der sein Neffe, der Wasserträger Jankel aus Pohodna, gemeinsam mit anderen Juden in einen Waggon gesperrt wird, in dem die SS die Gefangenen verhungern läßt. Im Warten auf den Tod erzählen sich die Gefangenen Geschichten, denn, so ihre überzeugung, man kann zwar einen Waggon Juden töten, nicht aber ihre Geschichten.

"Und der Blick sah, daß die Geschichte der Juden aus Pohodna nach wie vor auf dem Dach des Zuges hockte", heißt es am Ende des Buches. "Wer etwas aufbewahrt, der glaubt nicht an den Untergang, und er ist nicht verzweifelt."

 

Die Presse, 10.04.1993

Mit freundlicher Genehmigung von Peter Zimmermann und von "Die Presse"