"Heute ist der 31. August 1939", sagt der Notar am Krankenbett von
Jossel Wassermann, der fernab seines Geburtsortes Pohodna in der Bukowina im
Sterben liegt. "Die Luft", sagt der Notar weiter, "riecht nach
Götterdämmerung." Er und der Rechtsanwalt Schnürzli sind
zugegen, um das Testament jenes Mannes aufzusetzen, der es in der Schweiz mit
der Herstellung koscherer Matzeknödel zu einem ansehnlichen Vermögen
gebracht hat und dem es bestimmt ist, an jenem Tag von der Welt abzutreten, an
dem auch der Vernichtungsfeldzug gegen sein Volk einsetzt. "Das Ungeheuer
aus Braunau", weiß Jossel Wassermann, "wird in wenigen Tagen -
es können auch nur wenige Stunden sein - in Polen einmarschieren. Und das
ist für mich ein Problem."
Das Problem des sterbenden Juden Jossel Wassermann ist die Tatsache, daß
sein Leichnam nicht mehr wird heimkehren können ins Schtetl; nach Pohodna,
wenn Hitler, und seine Offiziere sich einmal in Polen eingenistet haben. Also
löst er das Problem dadurch, daß das Schtetl zu ihm kommt, indem er
nämlich davon zu erzählen beginnt. Die Erinnerung ersetzt die
Realität, und als Vertreter eines Volkes, das das Warten gelernt hat wie
kein anderes, ist ihm die Hoffnung wichtiger als das Ziel.
So beginnt Jossel vom Schtetl zu erzählen und von den Wassermanns ebendort,
wobei er nicht umhin kommt, gleich drei Generationen weit auszuholen. In
komischen, traurigen, schauerlichen Anekdoten, die nur so aus ihm
heraussprudeln, entwirft er eine ganze Kulturgeschichte des osteuropäischen
Judentums. Seine Zuhörer, der Notar und der Rechtsanwalt - und mit ihnen
der Leser - , erfahren alles, was einem Juden zwischen Geburt und Tod das Leben
lebenswert macht, was ihn bedrückt, was er fürchtet und wie man stets
den Kopf über Wasser behält. Und je mehr Jossel Wassermann
erzählt, umso sturer erzählt er gegen das Sterben an. Solange er zu
keinem Ende kommt, muß auch der Tod auf sein Geschäft warten.
"Ein Jude kann stundenlang mit dem lieben Gott reden und ihm alles
berichten, und der liebe Gott hört immer zu", heißt es an einer
Stelle. Und man stellt sich einen schmunzelnden lieben Gott vor, der etwas
ungläubig der Geschichte lauscht, in der weiland der Kaiser Franz Josef in
der Wassermannschen Schenke zu Pohodna einen Salzhering verspeisen wollte und
sich dabei verschluckt hat. Jossels Urgroßmutter hat den Kaiser vorm
Erstickungstod gerettet, worauf dieser als Belohnung allen Juden in der
Monarchie die vollen Bürgerrechte zugesichert haben soll.
Einigermaßen skurril ist auch die Geschichte von Jossels Hochzeitsnacht,
als er erfahren mußte, daß seine Braut keine Jungfrau mehr war, weil
sie sich mit einem Kochlöffel selbst der Jungfernschaft entledigt hatte.
Nicht zu vergessen die Geschichte von Jossels Abenteuer im Ersten Weltkrieg, als
er 254 Italiener widerstandslos in die Gefangenschaft führte, weil er ihnen
glaubhaft versicherte, daß es im Lager "Backhendl und Tafelspitz und
Beinfleisch und Kren" zu essen gäbe. So reiht sich eine Anekdote an
die andere, alle angesiedelt im Zwischenreich von Phantasie und Wirklichkeit -
dem Spielplatz aller Schelme der Weltliteratur.
Edgar Hilsenrath. hat mit seinem Roman thematisch an ein beliebtes Genre der
letzten Jahre angeschlossen: die Wiederentdeckung der Kultur der
osteuropäischen Juden. Abgesehen von den Sachbüchern und Anthologien
hat man ähnliches bereits bei Isaac und Israel Singer, Manes Sperber,
Joseph Roth, Bruno Schulz oder Karl Emil Franzos gelesen. Eines aber ist Edgar
Hilsenrath eigen, wie außer ihm nur George Tabori: der radikale Witz, der
sich nicht davor scheut, selbst dem Tragischen eine komische Note abzugewinnen.
Da wird niemand denunziert, da gibt es nur die Fähigkeit der
Selbstironisierung, durch die das Leiden zwar nicht abgeschafft, aber doch
erträglicher gemacht wird.
Die Geschichte von Jossel Wassermann hat noch eine kleine Rahmenhandlung, in der
sein Neffe, der Wasserträger Jankel aus Pohodna, gemeinsam mit anderen
Juden in einen Waggon gesperrt wird, in dem die SS die Gefangenen verhungern
läßt. Im Warten auf den Tod erzählen sich die Gefangenen
Geschichten, denn, so ihre überzeugung, man kann zwar einen Waggon Juden
töten, nicht aber ihre Geschichten.
"Und der Blick sah, daß die Geschichte der Juden aus Pohodna nach wie
vor auf dem Dach des Zuges hockte", heißt es am Ende des Buches.
"Wer etwas aufbewahrt, der glaubt nicht an den Untergang, und er ist nicht
verzweifelt."
Die Presse, 10.04.1993
Mit freundlicher Genehmigung von Peter Zimmermann und von "Die Presse"