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Jossel Wassermanns Heimkehr

Legende von der sinnlosen Tat

Von Lothar Baier

Dort am Fluß Pruth, in der Gegend von Czernowitz, wo Manès Sperber zur Welt kam und wo seine "Wasserträger Gottes" durchs seinerzeit habsburgerisch administrierte Schtetl zogen, spielen die Geschichten, die Edgar Hilsenraths neuer Roman erzählt. Sie lassen sich, wenn man die Augen etwas zusammenkneift, als literarische Ergänzung zur Rekonstruktion des ostjüdischen Lebens lesen, wie Mark Zborowski und Elisabeth Herzog sie in ihrem ethnologischen Klassiker "Das Schtetl" festgehalten haben: Auch sie bringen auf ihre Weise bei, was unter einem "Luftmenschen" zu verstehen ist und was ihn vom gewöhnlichen Schnorrer unterscheidet, worauf die Tradition des Matzenessens in der Pesachwoche zurückgeht, welche Rolle die Frauen im Familienverband spielen. Hat sich der 1926 in Leipzig geborene Hilsenrath, der den zweiten Weltkrieg in einem rumänischen Ghetto überlebte und sich danach durch mehrere Länder schlug, bevor er sich 1975 in Berlin niederließ, nun endlich auch dem galoppierenden Trend zur Wiederbelebung verschwundener "Lebenswelten" angeschlossen, unter Berufung auf den biographischen Umstand, daß ein Teil seiner Vorfahren aus der Bukowina stammt?

Ganz im Gegenteil. Der Roman "Jossel Wassermanns Heimkehr" vereitelt jegliche nostalgische Lesart seiner Geschichten. Indem er vom Schtetl namens Pohodna am Pruth erzählt, erzählt der Roman zugleich von etwas anderem, das eben nicht erzählbar ist und dennoch in der Art des Erzälens, die Hilsenrath gewählt hat, unerwartet gegenwärtig wird: die Vernichtung. Die Vernichtung inmitten all der Schnurren und Schwänke aus Kaiser Franz Josephs Zeiten, über die herzlich gelacht werden darf. Hilsenrath ist mit seinem neuen Roman ein ganz außerordentlicher Balanceakt gelungen.

Aber was heißt hier "Erzählen"? Auch in seinem frühen Roman "Nacht", der zuerst in den USA erschien, bevor er 1978 einen deutschen Verleger fand, hatte der Autor erzählt, und zwar von der grauenhaften Lebensumständen des deportierten Jugendlichen im rumänisch verwalteten Ghetto von Moghilev - Podolsk, aus dem er schließlich von der Roten Armee befreit wurde. Aber es handelte sich dort um ein Erzählen, das auf die Evokationskraft der benannten Schrecken baute und sich daneben auf den Transport durch die konventionelle Romansprache verließ, die Formeln parat hatte wie: "Die Frau starrte ihn wortlos an" oder "In derartigen Situationen arbeitete sein Hirn stets ruhig und logisch". Von solchem auf bewährte Weise berichtenden Schreiben hat sich Hilsenrath inzwischen sehr weit entfernt. Sein 1989 erschienener, mit dem Döblin-Preis ausgezeichneter Roman "Das Märchen vom letzten Gedanken" ist das Wagnis eingegangen, vom Völkermord an den Armeniern mit dem Mittel der legendenartigen Stilisierung zu berichten, und hat diese Probe überzeugend bestanden. Gegenüber Franz Wefels berühmtem Armenier- Epos "Die vierzig Tage des Musa Dagh", das die armenische Tragödie in das Korsett der realistischen Abenteuergeschichte zwängt, gewinnt Hilsenraths Roman unerschlossene Dimensionen hinzu, und zwar dadurch, daß er die Abschweifung ins Phantastische zur Methode macht.

Dieses Erzählen ist eine höchst artistische Veranstaltung: Es bedient sich der scheinbaren Naivität der Märchenerzählerei als eines Kunstmittels, das es erlaubt, Zeit und Raum zu überspringen und die Differenz zwischen Wichtigem und Unwichtigem auf den Kopf zu stellen. In "Jossel Wassermanns Heimkehr" sind es chassidische Legenden und Schtetl-Geschichten, die sich in Hilsenrathsche Erzählsprache verwandelt haben: Nicht allein die gewichtigen Stimmen, "die nur aufbewahrten, was spätere Generationen für wichtig hielten", wie es einmal heißt, sollen zu Gehör kommen, sondern auch die "kleinen Quasselstimmen", die die Atemzüge zählten, "und zwar jedes einzelnen Juden". Die fraglichen Juden sind immer noch auf dem Boden des Schtetl am Pruth, allerdings eingesperrt in einem Güterwagen, der hinterm Sägewerk auf dem Abstellgleis steht: Doch nicht von dem vorstellbaren Ende der Weiterfahrt handelt die Hauptsache des Romans.

Jener Jossel Wassermann aus Pohodna in der Bukowina, der als Erzähler das graße Wort führt, sitzt in Erwartung eines friedlichen Lebensendes in einer Züricher Anwaltskanzlei und gibt sein Testament zu Protokoll, das verlangt, daß seine Leiche nicht am Zürichsee, sondern am Pruth begraben wird. Man schreibt September 1939, die Ausführung des letzten Willens erscheint ein wenig kompliziert, so daß Jossel Wassermann sich fragen lassen muß, was ihn, den erfolgreichen Matzenfabrikanten mit Wohnort Zürich, post mortem denn so kraftvoll nach Osten zieht. Und so ergreift der Befragte die Gelegenheit, den Zürcher Zuhörern zu erklären, wie es den Juden früher ergangen ist am Ostrand des Habsburgerreichs.

Den Namen Pohodna, so viel begreift die Zuhörerschaft gleich, muß man sich merken, weil damit der verkannte Mittelpunkt des Weltgeschehens bezeichnet wird. Der Gedanke, den Juden die gleichen Rechte zu gewähren wie den anderen Untertanen auch, ist Kaiser Franz Joseph demnach nirgendwo anders als in diesem Schtetl gekommen, und zwar in der jüdischen Kneipe, wo ihm erfolgreich in die Luftröhre geratener Salzhering herausgezogen wurde. Aus Dankbarkeit für den lebensrettenden Griff wurde den Juden die Emanzipation geschenkt. überhaupt hat österreich Jossel Wassermanns Geschichtsstunde zufolge den Juden sehr viel zu verdanken, den Umstand etwa, daß es 1866 nicht komplett von den Preußen überrannt wurde: zwar hätten die Preußen das österreichische Land schon gern haben wollen, nicht aber ein Land voller Juden. Also haben die Juden das Land für österreich gerettet.

Dem Notar und den Sekretärinnen in der Zürcher Anwaltskanzlei wird nicht nur mit deftigen Worten ein nicht ganz museumsfähiges Schtetl - Leben geschildert, sondern es wird ihnen auch eine Geschichtslektion über die Herkunft des bäuerlichen Judenhasses erteilt. Antisemitismus, wird dabei klargemacht, ist noch etwas anderes: "Wissen Sie, wenn ein Goi mit einer Betonung redet, die an die Betonung der Juden erinnert, dann ist er zweifelsohne ein Antisemit."

Und doch gibt es Dinge, die auch Jossel Wassermann, der in der Welt herumgekommen ist, nicht erklären kann. Daß er sich völlig ausgeraubt am Ufer des Luganer Sees wiederfand, nachdem er den Schmugglern, die ihn aus Italien herüberruderten, unvorsichtigerweise die von der fürsorglichen Mutter eingenähten Goldstücke und Dollar gezeigt hatte, das kann er noch verstehen. Zur Not kann er auch begreifen, daß man dem bewußtlos Geschlagenen die Stiefel ausgezogen und die Kleider vom Leib gerissen hat, in der Hoffnung, auch die noch zu Geld zu machen. Ihm aber auch noch die Unterhosen wegzunehmen, die nicht nur voller Löcher, sondern auch nicht ganz sauber, also völlig unbrauchbar sind, das will ihm nicht in den Kopf. Ihm ist eine Welt untergegangen, "weil er die Sache mit den Unterhosen nicht begreift. Dieser Diebstahl war sinnlos ... Es sind die Taten, die ein Jude nicht begreift, wo er am Ende ist mit seiner jüdischen Logik."

Es gehört nicht nur außergewöhnliche historische Sensibilität, sondern auch ein beherztes Erzähltalent dazu, aus solchen Geschichten eine Art zweite Sprache sprechen zu lassen, die es dann ermöglicht, den unsagbaren Gedanken der sinnlosen Vernichtung auszusprechen, ohne ihn gleich wieder totzureden. Dieses Talent ist nicht vom Himmel gefallen, es ist Resultat der von Buch zu Buch sichtbar fortentwickelten Arbeit des Schreibens. Edgar Hilsenrath darf sich zugute halten, daß er nicht durch ein Wunder, sondern durch harte Schreibarbeit den Literaturtheoretikern ein Schnippchen geschlagen hat, die behaupten, daß die Literatur gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit sowieso ausgespielt habe und daß die Erinnerung an den Genozid mit der Suche nach neuen literarischen Formen erst recht nicht vereinbar sei. "Jossel Wassermanns Heimkehr" sei Leserinnen und Lesern denen der Humor nicht vergangen ist, weil sie mit dem Verzweifeln nicht aufhören können, wärmstens ans Herz gelegt.

 

Die Zeit 2.4.1993, S.4

Mit freundlicher Genehmigung von Lothar Baier