Als vor nunmehr einem halben Jahrhundert der Krieg in Europa zu Ende ging, als
viele erst mit Scham und Entsetzen die Abgründe der Unmenschlichkeit, des
Hasses und der Barbarei erkannten, die auf dem Nährboden einer
menschenverachtenden Ideologie über Jahre hinweg nahezu ungehindert
gedeihen konnten, da fragte man sich, ob angesichts all des Schrecklichen die
Dichtung als Ausdruck eines zutiefst Menschlichen noch eine Existenzgrundlage
und eine Daseinsberechtigung besitze. Heute wissen wir, daß trotz
Auschwitz und selbst über Auschwitz noch Gedichte geschrieben werden
konnten, und daß das Sprachkunstwerk als Möglichkeit, das
Unsägliche aussprechbar zu machen, auch Hoffnung und Hilfe sein konnte
für die, die mit der Vergangenheit leben mußten: die einen mit ihrer
Schuld, die anderen mit ihrem unendlichen Leid, ihrem Schmerz und ihrer
Demütigung. Wenn heute ein deutschsprachiger Schriftsteller jüdischer
Abstammung, der in seiner frühesten Jugend Ausgrenzung, Verfolgung und
Deportation erleben mußte, von der unfaßbaren Vernichtung einer
jüdischen Volksgruppe und ihrer blühenden Kultur erzählt, wenn er
dies ohne Haß, ohne Bitterkeit und Zorn zu tun vermag und in der Welt, die
er vor unseren Augen entstehen läßt, selbst dann noch Raum schafft
für Witz, Phantasie und Lebensfreude, wenn schon der Schatten des
bevorstehenden Todes über ihr schwebt, dann zeigt er damit nicht nur eine
künstlerische, sondern auch eine moralische Leistung, der unsere Achtung
gebührt.
In seinem jüngsten Roman hat Edgar Hilsenrath die farbenprächtige Welt
der osteuropäischen Juden, die vor mehr als fünfzig Jahren der
Zerstörungswut der Nazis zum Opfer fiel, noch einmal lebendig werden
lassen. Die Titelfigur des Buches, Jossel Wassermann, der als junger Mensch aus
der Kriegsgefangenschaft in die Schweiz geflüchtet und dort durch eine
günstige Heirat zum reichen Matzebrotfabrikanten geworden ist, fühlt
im Spätsommer des Jahres 1939 sein Ende herannahen und besinnt sich auf
seine geistige Heimat. Er, der sich bisher für assimiliert gehalten hat,
gesteht sich kurz vor seinem Tode ein, daß die Verwurzelung in der
Kulturtradition seines Volkes sein Leben stärker geprägt hat als
bisweilen angenommen. Er läßt den Rechtsanwalt Moische Katz und den
Notar Markus Xaver Schnürzli zu sich kommen, setzt sein Testament auf und
verfügt, daß sein Neffe, der Wasserträger Jankl, ein Zehntel
seines beträchtlichen Vermögens erhalten, der Großteil jedoch
den Armen von Pohodna vermacht werden soll, dem kleinen Schtetl in der Nähe
von Czernowitz, in das Jossel Wassermann heimzukehren beschlossen hat. Er weist
darum seinen Anwalt an, ihn nach seinem Tod nach Pohodna bringen zu lassen, in
einem Sarg, an dem er auch das Testament zugunsten der Bedürftigen
befestigt wissen will. Und weil keiner mehr daran zweifelt, daß in Europa
in kürzester Zeit der Krieg ausbrechen wird, denkt sich der findige Advokat
auch gleich eine List aus, um die sterblichen überreste seines Mandanten
trotz des voraussichtlichen Widerstandes der deutschen Kriegsherren bis ins
ferne Schtetl zu befördern.
Doch Jossel Wassermann hat noch einen weiteren Wunsch: Er will, daß Eisik,
der Thoraschreiber aus Pohodna, beauftragt wird, seine Geschichte
aufzuschreiben. Was er davon für mitteilenswert hält, erzählt er
seinem Anwalt und dem Notar, und solange er erzählt, ist er fröhlich
und heiter, und der Tod kommt nicht zu ihm. Freilich werden die beiden
Zuhörer mitunter etwas ungeduldig, denn Jossel Wassermann holt weit aus,
beginnt mit dem König Kasimir, der einst die Juden nach Polen holte, weil
er sich davon einen wirtschaftlichen Nutzen für das zerrüttete Land
versprach, erzählt von seinem Urahn, dem Reb Mordechai, der mit seiner Frau
Jette, einer Schar von Kindern und dem Gaul Bogdan aus der galizischen Stadt
Kolomea aufbrach, um der Not, dem Elend und dem Hunger zu entfliehen, sich in
Pohodna niederließ und dort eine Schenke aufmachte, erinnert sich an
seinen Großvater, den Schankwirt Leibl Wassermann, an seine Eltern und die
zahlreichen Geschwister, die inzwischen gestorben oder irgendwo in der Welt
verstreut sind, und an seinen Neffen Jankl, den einzigen noch im Schtetl
verbliebenen Verwandten. Onkel Jossels Geschichte gerät zu einer Vielzahl
von kleinen Geschichten, die zusammen wiederum eine in sich geschlossene,
schillernde Welt ergeben, deren pulsierendes Leben der Erzähler in
eindruckvollen Bildern einzufangen versteht. Der etwas schrullige alte Mann, der
selbst in den letzten Tagen seines Lebens noch eine gewisse Vitalität
ausstrahlt, besitzt die Souveränität dessen, der, aus der zeitlichen
und räumlichen Distanz zu dem Erzählten, kleine menschliche
Schwächen und Lasten, mit augenzwinkerndem Humor wahrnehmen kann, aber auch
die Sensibilität dessen, der sich der Welt, über die er erzählt,
noch immer zugehörig fühlt.
Die zahlreichen Gestalten, die der Erzähler in seinen Geschichten
porträtiert, wirken bei aller Skurrilität, die ihnen gelegentlich
anhaftet, kraftvoll und lebensecht. Der Rebbe und die Rebbezen mit ihren
fünf Töchtern, der Schuster Katz und Rifke, seine bucklige Tochter,
die den Wasserträger Jankl liebt, Reb Wichnitzer, der Schlächter, und
die dicke Rebecca, die bereits bei ihrer Geburt dem Jossel Wassermann
versprochen und vierzehnjährig mit ihm verheiratet wird, der Bademeister
Jossel und Reb Meir, der Lehrer aus dem Cheder, der Judenschule, Lea Wassermann,
die von ihrer Familie wie eine Tote betrauert wird, als sie mit sechzehn von zu
Hause wegläuft, einen ruthenischen Bauern heiratet und sich taufen
läßt, die schwachsinnige Resele, die als junges Mädchen von
einem Goi, einem Nichtjuden, überfallen, vergewaltigt und geschwängert
wird, der Friseur und die Einlauffrau, die bei allen körperlichen Leiden
der Schtetljuden Rat wissen, die Heiratsvermittlerin und der Thoraschreiber, die
Händler und die Bettler, die Schnorrer, die Luftmenschen und die Balegulen:
sie alle bevölkern einen einzigartigen kulturellen und geographischen Raum,
in dem auch Ruthenen, Rumänen, Russen, Polen und Ungarn ihren angestammten
Platz einnehmen und in dem selbst der Kaiser Franz Joseph einmal in Erscheinung
tritt, als er bei einem Besuch in seinen östlichsten Provinzen in der
Kneipe des Leibl Wassermann einkehrt, sich an einem jüdischen Salzhering
verschluckt und im letzten Augenblick von der alten Jente, der
Urgroßmutter des Jossel Wassermann, vor dem Ersticken gerettet wird, indem
sie ihm kurzerhand den Fisch wieder aus der Kehle zieht. Ob dieser Vorfall oder
doch eher die politische Situation um 1867 den Kaiser später
veranlaßte, den Juden volle bürgerliche Rechte zu gewähren, mag
der Erzähler nicht entscheiden: "Wir Juden sind ein vorsichtiges Volk.
Doppelt hält besser, und zwei Gründe sind besser als einer." (S. 151)
Die ethnischen Gruppen rund um das Schtetl haben sich miteinander arrangiert,
wenngleich schon bei kleinen Konflikten, wie sie beispielsweise unter den
Zechern in Leibl Wassermanns Kneipe entstehen, alle anderen sich meist im
Handumdrehen gegen die Juden solidarisieren und selbst wenn auf allen Seiten
noch hartnäckige Vorurteile bestehen: Der Pope findet, man müsse die
Juden bekehren, "damit sie endlich mal mit dem Gemurmel aufhören in ihren
Betstuben und auch mal zugeben, daß sie den Heiland getötet haben"
(S. 224), und Großmutter Wassermann glaubt zu wissen, daß Zigeuner
Wäsche und kleine Kinder stehlen, und läßt bei Jossels
Hochzeitsfeier die Bauern aus der Umgebung an einem eigenen Tisch sitzen, da sie
fürchtet, sie könnten ihr koscheres Geschirr verunreinigen.
Doch weder die größeren und kleineren Verständigungsprobleme
noch die historisch gewachsenen und sozial bedingten Ressentiments vermögen
die irrationale, grausame Auslöschung begreiflich zu machen, der Pohodnas
Juden anheimfallen sollen. Als Jossel Wassermann auf seiner Flucht in die
Schweiz von seinen Fluchthelfern ausgeraubt wird, weiß er, daß er
sich selbst durch Unvorsichtigkeit und Leichtgläubigkeit um sein Geld
gebracht hat und kann Habgier als Motiv der Täter nachvollziehen. Was ihn
jedoch zutiefst erschüttert, ist, daß die auch seine löcherigen,
völlig wertlosen und unbrauchbaren Unterhosen geraubt haben, denn
dafür kann er keine rationale Erklärung mehr finden. Er begreift: "Es
sind die sinnlosen Verbrechen, an denen die Welt zugrunde geht." (S. 287)
Durch Onkel Jossels Geschichten zieht sich, in einem eigenartigen
Spannungsverhältnis zu ihren kraftvoll-lebendigen Bildern stehend, ein
dichtes Netz von Vorausdeutungen, Leitmotiven und Anspielungen, die allesamt den
bevorstehenden Untergang, den Tod der erzählten Welt vorwegnehmen und sich
bisweilen zu apokalyptischen Visionen auswachsen, in denen die Vorahnung des
Holocaust sich abzeichnet.
Der Thoraschreiber Eisik wird Jossel Wassermanns Geschichten nicht mehr
aufzeichnen können, ebenso wenig wie Onkel Jossels Sarg Pohodna erreichen
und sein Testament die Armen erfreuen wird, denn den Thoraschreiber und die
anderen Schtetljuden wird es schon bald nicht mehr geben. Aber einmal
erzählt, können diese Geschichten auch nicht mehr verlorengehen, denn
übriggeblieben sind die kleinen Stimmen gegen das Vergessen, und ihnen wird
die Geschichte der Schtetljuden anvertraut. Jossel Wassermanns Geschichten
werden im Roman von einer Rahmengeschichte umschlossen, deren Handlung sich drei
Jahre nach Onkel Jossels Tod abspielt. In den frühen Morgenstunden eines
kalten Wintertages werden alle Schtetljuden in einen Güterzug verfrachtet
und abtransportiert, ihre Häuser geplündert, ihre Habseligkeiten
gestohlen. Ihr Lebensmut ist zunächst noch ungebrochen: Vor der Vision des
Ofens, aus dem es Gerüchten zufolge nach verbranntem Menschenfleisch
riechen soll, retten sie sich in Träume von Wohlergehen und Glück. Der
kluge Rebbe aber weiß, daß er noch eine Aufgabe zu erledigen hat: Er
muß die Geschichte der Juden - denn sie haben nur das Vergessen, nicht
aber ihre Geschichte und das Erinnern in dem verödeten Schtetl
zurückgelassen - vor den Gojim in Sicherheit bringen, und so versteckt er
sie denn auf dem Dach des Zuges, rettet die Geschichte der Juden, die aus vielen
kleinen Geschichten besteht und auch verschiedene Stimmen hat: Solche, die
manchmal schlafen und nur das erzählen, was später einmal in den
Geschichtsbüchern stehen wird, und solche, die immer wach sind und für
die nichts unwichtig ist, der Traum des Wasserträgers nicht und nicht der
Schreckensschrei der Mutter, die am Morgen feststellen muß; daß ihr
Kind gestorben ist.
Auf dem letzten Stück ihres Weges in den Tod aber können selbst diese
kleinen, wachsamen Stimmen die Juden nicht mehr begleiten. Ihr Platz ist jetzt
draußen, auf dem Dach des Zuges. Was drinnen geschah - es bleibt
unfaßbar. So erfahren wir denn auch nur, daß der Zug bis zum
mythischen siebten Tag auf einem toten Gleis abgestellt wird, mit verschlossenen
und verriegelten Waggons und unter strenger Bewachung. Als er sich endlich in
Bewegung setzt, sind die Schreie drinnen längst verstummt, und die
Vogelscheuche und die Mohrrübe, denen der Wind die Geschichte der Juden
erzählt hat, haben ihre Tränen getrocknet, denn sie können ja
doch nichts daran ändern.
"Jossel Wassermanns Heimkehr" ist ein Buch über eine Welt, die es heute
nicht mehr gibt. Im Mittelpunkt steht jedoch nicht ihr Untergang, sondern ihre
bunt schillernde Schönheit, nicht der Tod, sondern das Leben, nicht die
Resignation, sondern die Hoffnung. "Wir Juden hoffen immer. (...) Wäre es
anders, so wären wir keine Juden" (S. 298), sagt eine der Stimmen auf dem
Dach des Zuges. Und der Wind, dem aufgefallen ist, daß sich der Geist
Gottes auf Erden schon lange nicht mehr hat blicken lassen, macht sich, nachdem
der Judenzug abgefahren ist, auf die Suche und sagt zu dem stummen Kruzifix auf
dem Hügel am Pruth: "Ich wette mit dir , daß ich den Geist Gottes
irgendwo finde." (S. 320)
Südostdeutsche Vierteljahresblätter, Jg. 44, Nr. 2, S. 140-142, München 1995
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Südostdeutsches Kulturwerk