"Hitler müßte jetzt als Jude weiterleben." Der Satz stammt
von Ellas Canetti und könnte als Motto über dem Roman von Edgar
Hilsenrath stehen. Nur in etwas anderem Sinne, als Canetti ihn 1945 gemeint hat.
Canetti: "Hitler hat die Deutschen zu Juden gemacht, in einigen wenigen
Jahren, und deutsch ist nun ein Wort geworden, so schmerzlich wie
jüdisch."
So 1945. Aber die Zeit ist nicht stehengeblieben, und 1970, als der Roman von
Hilsenrath in den USA, in Frankreich, Italien und England erschien, las sich
Canettis prophetischer Satz schon ganz anders. Hilsenrath lebt heute mit
amerikanischem Paß in West-Berlin. Jetzt ist sein Roman auch in deutscher
Sprache erschienen. Biedermann wird zum Nazi, zum Massenmörder, und als
alles vorbei ist, ist er wieder ein Biedermann. - Dieses Grundmuster hat man im
Nachkriegsdeutschland ungezählte Male vorgefunden. Es wurde auch in der
Literatur zu diesem Thema oft genug variiert. Bei Hilsenrath wird ein
Massenmörder der SS nach Kriegsende zum überzeugten Zionisten, zu
einem "Hundertfünfzigprozentigen", wie man das nennt. Schon
dadurch hat Hilsenrath eine Tabuzone verletzt, die des Philosemitismus, die die
Deutschen in Abwehr ihrer eigenen Vergangenheit errichtet haben.
Auch dem deutschen Leser sind seit Jahren Romane, Erzählungen und
Theaterstücke vertraut, die das Thema Verfolgung und Ausrottung der Juden
unter Hitler mit poetisch-satirischen und grotesk-komischen Mitteln behandeln.
Aber sie alle erzählen mehr oder weniger aus der Perspektive der Opfer.
Hilsenrath dagegen wählte für seinen Roman die Perspektive der
Täter. Den deutschen Lesern fällt es wahrscheinlich schwerer als
anderen, einem solchen Buch unbefangen gegenüberzutreten. Vielleicht auch
deshalb hat sich ein deutschen Verlag erst mit erheblicher Verspätung
gefunden.
Die derbe Komik in Hilsenraths Roman hat Rabelaissche Züge. In Wieshalle,
einer deutschen Kleinstadt, wachsen zwei Gleichaltrige, Jahrgang 1907, heran:
"Mein Freund Itzig war blond und blauäugig, hatte eine gerade Nase,
feingeschwungene Lippen und gute Zähne. Ich dagegen, Max Schulz, hatte
schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte
Zähne."
Eine Bilderbuchfigur, wie aus dem "Stürmer" entsprungen, der
eine. Der andere, mit dem er befreundet ist, den er später liquidiert (die
Zeiten sind eben so) und in dessen Rolle er schließlich schlüpft, um
die eigene Haut zu retten, sieht aus wie ein Edelgermane. Max Schulz, das
wesenlose Monstrum, plaudert von seinen fünf "Vätern", die
bei seiner Mutter Schlange standen, von dem "Dachschaden", den er
einer Vergewaltigung im Säuglingsalter durch seinen Stiefvater verdankt.
Das Kriegsende überlebt er in den polnischen Wäldern bei einer
"Hexe", die ihn, den gewesenen "Herrenmenschen",
vergewaltigt, demütigt und züchtigt.
Das garganfueske Personal des Romans wuchert nur so. Die Entwürdigung,
Entmenschung der jüdischen Opfer, das beschädigte Leben fällt auf
die Täter zurück. Es ist nur konsequent, wenn der Max Schulz des
Romans mit aller Gewalt und Raffinesse, die ihm zu Gebote steht, nach Kriegsende
Jude zu sein versucht. Er läßt sich beschneiden und wandert nach
Palästina aus. Selbstredend ist er bald wieder wer.
Itzig Finkelstein alias Max Schulz wird Mitglied der jüdischen
Untergrundarmee, schwärmt - wie er es in alten Zeiten gelernt hat - von
einer "Weltherrschaft des Judentums", um sich ebenso schnell belehren
zu lassen, man wolle weder Weltherrschaft noch Endsieg, sondern nur einen
jüdischen Staat im Rahmen der historischen Grenzen. 1953 erreicht der
(falsche) Itzig in Beth David sein Traumziel. Er wird Eigentümer eines
Friseursalons. "Der Herr von Welt", im deutschen Wieshalle hat er, der
mickrige Friseurlehrling, vergebens danach getrachtet.
Finkelstein/Schulz wird Präsident des Tierschutzvereins von Beth David und
Präsident der Antiwiedergutmachungsliga. Er kreiert einen
"Antiwiedergutmachungsherrenschnitt für . Damen". Der
Rollentausch entwickelt eine Perfektion, die schlimmer ist als der Tod. Keiner
nimmt diesem Itzig Finkelstein am Ende noch ab, daß er in Wahrheit der
Massenmörder Max Schulz ist. Man hält ihn für
übergeschnappt, seinen Versuch eines Geständnisses für eine
Spätfolge des im KZ Erlittenen. Wer nicht schuldig gesprochen werden kann,
findet auch keine Erlösung. Max Schulz bleibt mit seiner Vergangenheit auf
eine Weise allein, die ihn weder leben noch sterben läßt.
Jean Améry schreibt in seinem Essay "Vom Zwang und der
Unmöglichkeit, Jude zu sein": "Der Jude ohne positive
Bestimmbarkeit, der Katastrophenjude, wie wir ihn getrost nennen wollen,
muß sich einrichten ohne Weltvertrauen . . .
Ohne Weltvertrauen stehe ich als Jude fremd und allein gegen meine Umgebung, und
was ich tun kann, ist nur die Einrichtung in der Fremdheit. Ich muß das
Fremdsein als ein Wesenselement meiner Persönlichkeit auf mich nehmen, auf
ihm beharren wie auf einem unveräußerlichen Besitz ..."
In dem Augenblick, da der falsche Itzig Finkelstein des Romans sich vergeblich
als Max Schulz zu bekennen versucht erlebt er - in diesem Sinne - auch sein
Jude-Sein.
Frankfurter Rundschau, 1. April 1978