Mit seinem neuen Roman Bronskys Geständnis
hat Hilsenrath wieder zur autobiographischen Aufarbeitung gefunden. Der
Waschzettel verheißt nicht völlig zu Unrecht das Gegenstück zu
seinem Roman Nacht, der präzisen, krude
realistischen Beschreibung des Lebens im rumänischen Ghetto während
des Zweiten Weltkrieges. Jakob Bronsky, als Sohn eines jüdischen
Möbelhändlers in Halle an der Saale geboren, ist in den frühen
fünfziger Jahren endlich in den USA, in New York, und dabei, seinen ersten
Roman zu schreiben, um sich von den brutalen Erinnerungen zu befreien. Aber er
lebt nicht etwa in einem Zimmer mit Schreibtisch, sondern als ganz armer Hund,
für den schon die Graupensuppe in der EmigrantenCaféteria ein Luxus
ist, der nachts, nachdem die meisten Gäste gegangen sind, dort am
hintersten Tischchen Kapitel um Kapitel schreibt. Und der immer wieder jobben
muß, um weiterschreiben, weiterleben zu können. Jobs, die eine
Agentur für die Penner in der Warren-Street ihm vermittelt: Kellner
für eine Nacht, Nachtportier-Urlaubsvertretung, Hunde reicher Leute aus der
Park-Avenue ausführen. Oft muß sich Jakob, ohne Fahrgeld zu bezahlen,
bis zur Agentur durchmogeln, und er lernt, die verschiedensten Penner-Tricks
anzuwenden, um die Einkünfte aus den Jobs zu erhöhen. Seine sexuellen
Bedürfnisse kann er aus Geldmangel nur mit den billigsten Nutten
befriedigen.
Der grausame New Yorker Alltag für die Ärmsten, Verkommensten, Recht-
und Hilflosesten, die Penner, die Schwarzen, die Puertoricaner - das ist
Bronskys Arbeitsumgebung. Wahrhaftig ist auch die Tristesse der
Emigrantenszenerie der Unberühmten, Mittellosen; Rechtsanwälte, die
als Packer arbeiten, der Mann, der Abend für Abend Luftpostbriefe schreibt
(seine Familie ist im Gas umgekommen), die alten Damen, die sich mit
Zimmervermieten durchschlagen, aber nur in der Emigrantenzeitung inserieren, nur
Emigranten nehmen und da schon mal ein Auge zudrücken, wenn die Miete nicht
pünktlich gezahlt wird, weil sie sich mit Recht in New York fürchten.
Elend und Mitmenschlichkeit - Hilsenrath gelingt es wieder wie im Roman
Nacht darzustellen, wie nahe beides
zusammengehört, wie intakt die Moral der Heruntergekommenen ist, auch wenn
sie sich die hemmende Wohlanständigkeit nicht leisten können. Anders
noch - und darum bemitleidenswerter - die armen Emigranten, die versuchen, ihre
Lebensart noch im Elend zu bewahren und Bronsky auf hilflos rührende Weise
zu unterstützen versuchen, ja, ihn bewundern, als sie erfahren haben,
daß er an einem Roman schreibt.
Anders als im genannten ersten Roman hat Hilsenrath sich aber nun schon in der
Satire erprobt (Der Nazi & der Friseur), und so
hat er den neuen Roman als Satire angelegt. Er beginnt nämlich mit einem
verzweifelten Brief von Bronsky an den amerikanischen Generalkonsul in Berlin
nach den Ausschreitungen des 9. Novembers 1938, der sogenannten Kristallnacht,
die die Familie Bronsky schwer getroffen hat, und der Bitte, den Bronskys
möglichst rasch die Einreisepapiere für die USA zu übersenden.
Nach Monaten kommt die Antwort aus Berlin mit dem Hinweis, daß die
Aufnahmequoten für Einwanderungswillige festgesetzt seien und der Ansturm
einwanderungswilliger Juden so groß, daß die Bronskys wohl erst in
dreizehn Jahren mit der Einwanderung würden rechnen können, wenn sie
die für die Befürwortung notwendigen Bürgen nennen könnten.
Und richtig - nach dreizehn Jahren, nach Genozid und Weltkrieg, kommt der
Überlebende Jakob Bronsky als Greenhorn in die USA und (erfundener Zufall)
hat denn auch den Hund eines alten, fast erblindeten Konsuls auszuführen,
an den sich für ihn die Geschichte der Vertröstung von 1939 anbinden
läßt.
Hilsenrath schreibt zu Beginn seines Buches, daß er bewußt Dichtung
und Wahrheit vermischen wolle, auch wenn er auf den Brief seines Vaters Bezug
nehmen würde. Ich hätte es im Interesse der Wahrheitsfindung für
richtiger gehalten, wenn Hilsenrath in diesem leider gar nicht besonderen Fall
der Familie Bronsky dokumentarisch verfahren wäre, um ein noch
unaufgearbeitetes Kapitel Vergangenheit zu erhellen, den Widerspruch von
Humanität und Bürokratismus bloßzustellen und damit ein ganzes
Stück Nachkriegsgeschichte neu zu definieren.
Nun, Hilsenrath hat sich für die Spielform der Satire entschieden, den
verdeutlichenden Effekt der Satire aber nicht voll genutzt, sondern, motiviert
vom Wunsch, die brutale Härte der Story aufzubrechen, seine
Möglichkeiten als Autor ausgeschöpft. Er erzählt einer
berühmten Fernsehpsychologin seine Überlebensgeschichte; er beschreibt
seine Geburt aus der Sicht des Embryos im Mutterleib; er stellt sich den
schriftstellerischen und den Erfolg bei der Chefsekretärin eines
berühmten New Yorker Verlages vor; er erfindet eine vergnüglich-
bittere Heiratsanzeigen-Episode. Dialogpartien wechseln mit erzählerischen
Passagen, die Story wird bald unter die Lupe genommen, bald verfremdet. So
entsteht eine Realität in der Realität, ungeschönt
kraftmeierisch, aber gerade dadurch ohne Larmoyanz, ohne Elendsprotzerei. Trotz
mancher Déjà-vu-Effekte in der Schilderung des Submilieus ein
kräftiger Roman, wenn auch nicht die Anklage Amerikas - wie es im
Waschzettel ein wenig saison-modisch heißt -, weil Hilsenrath aus
erzählerischer Lust die Anlage des Buches nicht voll durchgehalten hat.
Dennoch auffallend zwischen vielerlei selbstquälerischer Erfindungsarmut.
Quelle:
Der Tagesspiegel, 26.10.1980
veröffentlicht in:
Kraft, Thomas (Hrsg.): Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen
Piper Verlag, München 1996.
Mit freundlicher Genehmigung von B. Drewitz.