FEIBEL: über Jahrzehnte hinweg haben Sie Ihre Wohnorte gewechselt und
wechseln müssen. Seit Mitte der siebziger Jahre leben Sie in Berlin. Wie
fiel Ihre Wahl auf Berlin?
HILSENRATH: Als ich mich nach langem Hin- und Herpendeln endlich
entschloß, ganz nach Deutschland zu ziehen, sandte ich einer Bekannten in
München mein spärliches Hab und Gut. Es stellte sich heraus, daß
mein Fluggepäck vierhundert Kilogramm übergewicht besaß. Was
blieb mir also anderes übrig, als noch einmal Pakete zu schnüren! Es
war einfach zuviel, um wieder meine Bekannte als Empfänger anzugeben. So
schickte ich es postlagernd nach Berlin. Einfach so. Eine Schnapsidee.
Sie haben Berlin nicht gekannt?
Ein Reporter von der deutschen Abteilung der BBC London sagte zu mir:
"Berlin ist die Stadt für einen Schriftsteller. Berlin ist die
Kontaktstadt" Das leuchtete mir ein. So flog ich nach München, holte
meine restlichen Pakete und fuhr nach Berlin. Ich hatte von den Szene-Kneipen
gehört, in denen sich Schriftsteller und Rundfunkleute aufhalten sollten.
Tatsächlich lernte ich 1976 in einer Kneipe die damalige Kulturredakteurin
des SFB kennen. Ich erzählte ihr meine Geschichte. Ein paar Tage
später machten wir ein Rundfunkinterview. Und dann traf ich Braun, einen
kleinen Berliner Verleger. Als er bei einem Bier erfuhr, daß niemand meine
Bücher in deutscher Sprache drucken wollte, war sein Interesse geweckt. Der
Braun war jung und ein Abenteurertyp. Er bat mich, ihm das Manuskript zu geben.
Eine Woche später hatte ich meinen Vertrag. Das war alles in Berlin, und in
Berlin bin ich geblieben. Ich fühle mich da ganz wohl. Vor dem Mauerfall
war sie die einziger Stadt, die nicht so deutsch wirkte. Ausgeflippter,
internationaler und nicht so bürgerlich.
Weshalb pendelten Sie zwischen den Kontinenten?
Ich hatte in Deutschland keine Existenzmöglichkeiten. Meine Familie lebte
immer noch in New York. Ich schrieb den größten Teil von "
Der Nazi und der Friseur" in München. Dann
ging mir das Geld aus und ich kam wieder zurück. Ich habe bei meinen Eltern
gewohnt und ein bißchen gejobt. Bis ich 1975 die Entscheidung traf,
Amerika endgültig den Rücken zu kehren. Ich bin zu lange
drübengeblieben.
Hängengeblieben?
Hängengeblieben. Ich hätte damals sofort wieder zurückfahren
müssen. Für mich war New York zunächst eine gute Stadt. Ich
konnte dort sehr gut arbeiten und genoß die Anonymität. Es ist eine
riesige lebendige Stadt. Wenn ich nachts geschrieben habe, bin ich oft um drei
Uhr morgens runtergegangen, habe mir Zigaretten, Milch und Kaffee gekauft und
wieder weitergeschrieben. So etwas geht nur in Amerika, wo die Läden die
ganze Nacht aufhaben.
In "Bronskys Geständnis" wird
Amerika beschrieben, als wäre es ein Alptraum.
Sicher, es ist ein riesiges Chaos, das sich von Jahr zu Jahr ändert. Es
herrscht ein ungeheurer Konkurrenzkampf. Ohne gescheites Auto und üppigen
Wochenlohn ist man dort kein Mann. Dazu diese unheimliche
Straßenkriminalität. Ich bin dreimal überfallen worden.
Entscheidend war, daß mir Amerika nicht gefallen hat. Das ist einfach kein
Land für mich. Obwohl ich viele Freunde drüben hatte, gab mir Amerika
immer das Gefühl, eine Nummer zu werden. Eine ganze Gesellschaft von
Robotern. Alles automatisiert. Oberflächliche, aufgezogene Maschinen.
Und da fanden Sie gerade Deutschland interessant?!
Ich brauchte deutschen Sprachraum. Deshalb kam Israel nicht in Betracht.
Ursprünglich wollte ich nach Europa zurück. Aber Europa war auch nicht
mehr Europa: Das Mitteleuropa, wie ich es mir wünschte, gab es nicht mehr.
So wie Sie es in Ihrer Sendung "Das verschwundene Städel"
dargestellt haben?
Ja. Romantisch eben. Mit Flair. Meine stärkste Bindung besteht zu diesem
kleinen jüdischen Städel in der Bukowina, in dem meine
Großeltern gelebt haben. Es heißt heute Siret und liegt an der
russischen Grenze. Man sprach deutsch und jiddisch. Siret war meine zweite
Heimat. Seit meinem dritten Lebensjahr war ich dort auf Sommerfrische. Als ich
zwölf Jahre alt war, wanderten wir dorthin aus. Bis zur Deportation. Siret
ist meine Lieblingsstadt. Das läßt sich besser nicht erklären.
Dort lebten Juden, Zigeuner, Ukrainer, Rumänen, Ungarn und Deutsche. Ein
warmherziger Vielvölkerstaat, ein interessantes Ländchen. Deshalb habe
ich es in einer Rundfunksendung verewigt.
Waren Sie wieder einmal dort?
Vor eineinhalb Jahren fuhr ich hin. Es ist völlig ausgelöscht. Nichts
mehr zu sehen. Nur ein paar alte Häuser, aber die Leute sind nicht mehr da.
Heute wird dort auch eine andere Sprache gesprochen.
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War für Sie schreiben eine Therapie?
Schreiben war für mich immer Therapie. Ich litt an Depressionen. Mit
zwölf aus der Schule raus, die Welt, die während des Krieges für
uns still stand ..., da konnten die meisten den Anschluß nicht mehr
finden. Mit zwanzig hatte ich sehr viele Identitätskrisen. Das lag an der
unterbrochenen Entwicklung. Ich war. wie aus der Bahn geworfen, wußte
nicht was ich machen sollte, wußte nicht, wozu ich überhaupt da war.
Das Schreiben hat viel gelöst. Nach den ersten neun bis zwölf Seiten
von "Nacht" war ich wie befreit. Ich hatte
mein Ziel gefunden. Ab da hatte ich keine Depressionen mehr.
Auch heute nicht?
Das einzige, was mir zu schaffen macht, ist mein Schnupfen.
"Nacht" haben Sie auf deutsch geschrieben und zum Kindler-Verlag
geschickt.
In welcher Sprache sollte ich sonst schreiben?! "Nacht" kam dann ja
auch bei Kindler heraus. Aber die Leute, die im Verlag die Karten verteilten,
waren dagegen. Sie warfen mir vor, die Juden häßlich darzustellen,
was ja überhaupt nicht der Wahrheit entspricht. Sie hatten 1200 Exemplare
gedruckt. 700 hatte Kindler verkauft der Rest wurde von mir aufgekauft oder
eingestampft. Ich habe 150 Bücher herumgeschickt, es kam nie eine Reaktion.
Schließlich erschien es beim renomierten Doubleday-VerIag. Auch Ihr
zweites Buch "Der Nazi und der Friseur" kam bei Doubleday heraus.
Ich hatte drüben sehr gute Kritiken. Der Verkaufserfolg war bei den
Hardcoverbüchern unheimlich groß.
"Der Nazi und der Friseur" hatten schon vor über zehn Jahren
nur im Ausland über eine Million Auflage. Wie reagierten die deutschen
Verlage?
Ich hatte ja auch das zweite Manuskript zuerst an die deutschen Verlage
geschickt. Sie sagten, man dürfe in Deutschland den Holocaust nicht mit
satirischen Mitteln machen. Da habe ich es Doubleday gegeben. Immerhin hatte ich
ja schon den Verleger.
Als Ihre Bücher im Braun-Verlag endlich auf deutsch herauskamen, tat
sich die Kritik nicht gerade leicht. Ein Kritiker schrieb, man würde Sie
aus schlechtem Gewissen loben...
Raddatz hat mich verrissen und beleidigt. Er hat mir sogar das Recht
abgesprochen, mich Schriftsteller zu nennen. Ich war für die Kritik ein
unbequemer Mann.
Ist das nicht ein Klischee, der unbequeme Mann?
Natürlich ist es das (lacht), aber nicht von mir. In meinen Büchern
werden so ziemlich alle Tabus gebrochen, insbesondere jene, die allgemein bei
Juden und Deutschen als heilige Kuh gelten. Die meisten können mit
schwarzen Humor nicht umgehen. Hier wurde in den sechziger Jahren die
Labordichtung hochgelobt. Ich mache das totale Gegenteil und schreibe ja ganz
einfach, aber jeder Satz hat etwas hinter sich. Wie soll mich Kritik also loben,
ohne, daß sie sich selbst in Frage stellen muß?
ärgert Sie das?
Das ärgert mich nicht, das hat mich sehr verzögert. Sie können
deinen Erfolgen auf die Dauer nicht verhindern, aber verzögern, hat mal
Reich-Ranicki gesagt. Dafür werden junge Autoren sofort hochgespielt.
Weil Satire in Deutschland einen schweren Stand hat?
Wenn mich etwas ankotzt dann drücke ich es privat in einem Wutanfall aus.
Wenn ich aber schreibe, drücke ich es zynisch und satirisch aus. Ich klage
nicht direkt an. Alles wird in beißenden Hohn gehüllt. Den Deutschen
haftet allgemein das Vorurteil an, daß sie humorlos seien. Das trifft
heute nicht mehr ganz so zu. Vielleicht zu Heines Zeiten. Womöglich haben
sie nur einen anderen Humor. Der englische Humor gilt ja hierzulande als
geschmacklos. Deutsche sind bierernst haben aber keinen Funken Selbstironie.
Sie sehen sich als Satiriker?
Ich schreibe makaber-satirische Dialoge. Viele sehen mich als Bösewicht,
der mit ernsten Themen unbefangen umgehen kann.
Ich habe die Philosemiten
erschreckt, ich bin Außenseiter, sowohl bei den Deutschen als auch bei den
Juden. So kann ich mir erlauben, meine Späßchen zu machen. Ich bin
Außenseiter und gefalle mir in dieser Rolle. Das bin ich eben.
Sie sagten, junge Autoren werden hochge-spielt Was halten Sie von den
jungen, deutsch-jüdischen Autoren?
Ich kenne die nicht.
Sie kennen sie nicht?
Wen denn? Es gibt meiner Meinung nach keine. Woher soll es sie geben?! Das
deutsche Judentum ist vernichtet worden. Die zurückgekommen sind, waren
doch nur ein paar Schwarzhändler, die hängengeblieben sind. Vielleicht
noch ein paar Rentner. Von den 50000 Juden hier sind sehr viele Einwanderer aus
Israel und Rußland. So viele deutsche Juden gibt es hier gar nicht.
Was würden Sie jungen jüdischen Autoren raten?
Ich würde sowieso niemandem raten, Schriftsteller zu werden.
Mit "Das Märchen vom letzten Gedanken" knüpfen Sie
wieder bei den großen Werken an. Die kleineren Werke, wie "
Zibulsky" oder "Gib
acht, Genosse Mandelbaum" wurden sehr unterschiedlich aufgenommen.
Günter Grass schreibt auch nicht jedesmal einen Butt.
Sie haben für "Märchen vom letzten
Gedeanken" den Döblin-Preis bekommen. Die erste hohe offizielle
Anerkennung für eines Ihrer Werke.
So ein Preis ist ganz gut für die Buchhändler.
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Wieso wollten Sie über den türkischen Völkermord an den
Armeniern schreiben?
Ich kann über alles schreiben. Ich bin ja kein Chronist. Ich habe etwas
über Juden geschrieben und ich kann auch etwas über die Armenier
schreiben. Warum sollte ich das nicht können? Die Türken haben den
ersten organisierten Völkermord des 20. Jahrhunderts durchgeführt. Das
hat mich interessiert.
Was ist so fesselnd am Holocaust?
Meine Erfahrungen waren nicht die schlechtesten. Ich war nicht im KZ. Ich habe
gar nicht viel gesehen. Ich war im Getto, in der Vorhölle. Da gab es nichts
zu essen. Mehr war nicht. Der Schock ist natürlich auch da. Wir haben das
mit den Gaskammern erst später erfahren. Was fasziniert einen am Tod? Ich
versuche eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, auf meine Weise zu
interpretieren. Es ist ein großer Stoff mit dem sich arbeiten
läßt. Ich wußte schon, als ich "Nacht" schrieb,
daß es einen Holocaust in der Türkei gegeben hatte. Ich wollte
wissen, wie das bei denen funktioniert hatte und las nebenbei alle Bücher,
die ich zu diesem Thema auftreiben konnte. Ich erzählte meinem Agenten in
Amerika davon. Er war begeistert.
Seit Werfels Buch, daß 1933 erschien, sei ein neues Buch fällig,
meinte er. Ich wußte, man würde mich an Werfel messen.
Schließlich hat es mich doch geritten. Ich erkannte, daß ich es
nicht besser machen mußte, sondern eben ganz anders. Und das habe ich
getan. Ich habe den Völkermord als Märchen erzählt.
Haben Sie armenische Freunde in Berlin, die Ihnen dabei geholfen haben?
Ich kenne ein paar Armenier. Aber die sind schon vierte bis fünfte
Generation. Da konnte ich kaum Auskünfte erhalten. Ich wußte nichts
von den Armeniern, mußte es aber genau wissen. Drei Jahre habe ich
intensives Quellenstudium betrieben und dann das Buch in einem Jahr
geschrieben.
Ich bin auch in der Türkei herumgereist. Das größte Problem,
bestand darin, das Material erstmal zu finden. Es gibt ein paar historische
Bücher in der Bibliothek, aber das wichtigste fehlte. Was aßen
Armenier zum Frühstück, wie sah eine armenischer Wiege aus,
Hochzeitsbräuche, wer wird Bürgermeister? Ich las historische
Bücher, traf auf Dorfbeschreibungen. Missionare zogen im 19. Jahrhundert
durch die Dörfer. Da fällt hier und da ein Satz. Ich habe mir die
Quellen wie ein Puzzlespiel zusammengesetzt bis ich eine klare Vorstellung
hatte.
Anscheinend kommen die Türken mit ihrer armenischen Vergangenheit
besser zu recht als die Deutschen mit ihrer jüdischen...
Die Türken behaupten ja, diesen Völkermord hätte es nie gegeben.
Ein Märchen.
Vor kurzem mußten sie Stellung dazu nehmen. Jetzt
stellen sie alles so hin, als wären die Armenier die Mörder und die
Türken die Opfer. Die Armenier hätten die Türken umgebracht!
Jetzt zeigen sie Dokumente. Als die Russen im Ersten Weltkrieg einmarschierten,
gab es auf sowjetischer Seite das armenische Freiwilligenbataillon. Die haben
sich wegen der einen Million gemordeter Armenier gerächt. Und jetzt sagen
die Türken, bitte, die Armenier haben die Türken umgebracht. Das
wäre so, als hätten ein paar Juden nach Auschwitz ein paar Deutsche
umgebracht. Die Türken machen jetzt große Gegendarstellungen.
Hierzulande gab man es ja wenigstens zu, wenn auch unter dem Druck der
Alliierten.
Ende der siebziger Jahre gab es Neonazis, die Ihre Lesungen störten.
Gab es Reaktionen von türkischer Seite?
Pfeifen, Flugblätter, Schäferhunde damals. "Der Nazi und der
Friseur" hatte sie provoziert. Ich bekam noch eine Menge Drohanrufe, aber
das ist lange her.
Seitdem nichts mehr?
Nichts mehr. Von den Türken kommt überhaupt nichts.
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Ich las, Sie fühlen sich unbehaglich, was die Wiedervereinigung
betrifft.
Die Deutschen haben den Russen und den Amerikanern vierzig Jahre lang den Arsch
geleckt und sich von ihnen hochpäppeln lassen. Jetzt haben Sie alle Angst
vor den Deutschen. Mitterrand zitterte ja fast als er sagte,
selbstverständlich habe er nichts gegen die Wiedervereinigung. Sie sehen ja
alle in Deutschland die zukünftige Großmacht. Die wollen sich jetzt
ihre Aktien einkaufen. Die Deutschen werden eine Supermacht werden und sich von
niemandem etwas sagen lassen. Sie werden sich auch von den Juden nichts sagen
lassen.
Sie sind gegen die Wiedervereinigung?
Ich bin nicht gegen die Wiedervereinigung, denn du kannst diesen Prozeß
nicht stoppen. Die Teilung ist künstlich. Ich sehe diesen neuen
Nationalismus: "Wir sind wieder wer!" Sie hatten ja alle
Minderwertigkeitskomplexe. Kein Deutscher wagte es noch vor zehn bis
fünfzehn Jahren, im Ausland seine Nationalität zuzugeben. Sie brauchen
jetzt ein neues Selbstbewußtsein. Wenn sie erst mal wiedervereinigt sind,
wird es ein 80-Millionen-Volk sein, und die ganze Welt wird wieder vor den
Deutschen zittern. Kein Volk kann eben auf die Dauer ohne Stolz leben. Das wird
eine große Reinwäscherei geben.
Nach welchem Motto?
"Wir sind nicht die einzigen, die das machen. Sogar die Juden machen
es." Was haben die Opfer von Auschwitz mit Israel heute zu tun? So kann man
nicht argumentieren. Wenn du ein Kind überfährst, kann der Richter
nicht sagen, daß in China auch Kinder überfahren werden.
Ich
habe die Deutschen nie gehaßt. Auch die Juden haben nicht sie, sondern die
Nazis gehaßt. Sonst hätten sie nicht die deutsche Sprache weiter
gesprochen und die deutsche Kultur gepflegt Es gab ja nie eine Rache von
jüdischer Seite aus. Die Deutschen sollen froh sein, daß es die
Araber gibt. Die ganze aufgestaute Aggression der Opfer wandte sich gegen die
Araber.
Haben Sie die deutsche Staatsbürgerschaft?
Die wollten mich hier einbürgern, dazu müßte ich eine
Verzichtserklärung unterschreiben und meinen amerikanischen Paß
zurückgeben. Dann kamen die Republikaner und der Mauerfall... Ich werde
wohl meinen amerikanischen Paß behalten.
Quelle:
Frankfurter Rundschau 15.09.1990, ZB 2