KUBOTA: Weshalb haben Sie in ihrem berühmtesten Buch Der Nazi & der
Friseur die Täterperspektive gewählt?
HILSENRATH: Mein erster Roman Nacht handelte von den Opfern. Ich wollte den
Holocaust dann mal aus einer anderen Perspektive schildern und habe diese
Wechselrolle gewählt: Das Ganze wird von einem Nazi erzählt, der aber
dann Jude wird. Der erzählt das aus zwei Perspektiven. Er wird Jude und
versucht sich in die neue Rolle einzufühlen, indem er das Ganze vom
Gesichtspunkt des Juden sieht. Und das gelingt ihm auch. Aber natürlich
bleibt er der Täter. Der Nazi&der Friseur ist eine satirische Groteske.
Ich kann mit der Groteske die Wahrheit sagen, nur verkleidet. Es wirkt oft
glaubhafter, wenn es durch die Groteske verfremdet wird. Eine andere Form der
Verfremdung ist das Märchen. Es ist eine Möglichkeit, auf spielerische
Weise die Wahrheit zu sagen. Meine Bücher sind politisch und soziologisch
genau fundiert, sie entsprechen genau den Ereignissen. Aber ich hab' das
verkleidet in Märchenform und Groteske. Die Sprache, die ich gewählt
habe, ist meine persönliche Sprache. Und ich hab' immer das Bedürfnis
gehabt, die deutsche Sprache aufzulockern, nicht so steif zu schreiben. Ich
schreibe ganz bewußt salopp.
Der Nazi&der Friseur ist zunächst 1971 in den USA erschienen, erst
einige Jahre später in Deutschland. Wie hat sich die Rezeption
unterschieden?
In Amerika ist der Roman von der ganzen Presse sehr positiv aufgenommen worden.
Er hat aber kein großes Aufsehen erregt. Das Buch erschien mit einer
kleinen Auflage und wurde dann erst ein Erfolg, als die Taschenbuchausgabe
herauskam. Die deutschen Verlage haben alle das Buch abgelehnt, erst der kleine
Literarische Verlag Helmut Braun hat es dann gemacht. Ich hab' den Helmut Braun
hier in Berlin kennengelernt, im Buchhändlerkeller. Der hatte von dem Buch
gehört und hat mich gebeten, das Manuskript zu schicken. Er hat es dann mit
Begeisterung gelesen und mir sofort einen Vertrag geschickt. Braun war für
mich ein Glücksfall. Er hat das Buch durchgesetzt. Er hat auch die Nacht
gedruckt, ist aber dann pleite gegangen - nicht durch mich. Nacht war schon
1964 bei Kindler in München erschienen, ist aber vom Verlag boykottiert
worden. Der Verleger war begeistert, aber der Verlag war gegen das Buch und hat
dann den Kindler veranlaßt, das Buch zurückzuziehen. Es erschien mit
einer ganz kleinen Auflage, ohne Werbung. Die haben es kaputtgemacht.
Auch mein poetischstes Buch, Das Märchen vom letzten Gedanken, ist
später von Hanser abgelehnt worden mit der Begründung, so dürfe
man nicht über den Völkermord schreiben. Das ist eine Folge des
deutschen Schuldkomplexes: Man darf die Opfer nur positiv beschreiben, als
moralisch einwandfrei. Und das habe ich nicht gemacht.
Die deutsche Fassung von Der Nazi & der Friseur ist um zweieinhalb
Seiten gekürzt. Es fehlt die Szene, in der Max Schulz Gott fragt, wo er
denn gewesen sei während des Holocaust. Warum haben Sie das Ende für
die deutsche Fassung verändert?
Weil das Ende Max Schulz, ja den Deutschen überhaupt entlastet und die
Schuld Gott zuschiebt. Ich bin dann zu der Überzeugung gekommen, daß
ich das streichen muß.
War Ihnen beim Schreiben von Nacht schon bewußt, daß der Text
eine große Provokation darstellt?
Nein, gar nicht. Ich habe Nacht geschrieben, weil ich einen Ghetto-Roman
schreiben wollte, aus meiner Sicht - ohne nachzudenken, wie die
Konsequenzen sind. Ich wollte vor allen Dingen etwas anderes machen. Es sind ja
viele Romane erschienen über den Holocaust. Ich wollte etwas Neues machen.
Ich habe das einfach so geschrieben, wie ich es erlebt habe. Der Leser von Nacht
wird so hineingezogen, als ob er selbst im Ghetto wäre.
Der Titel Ihres Buches Fuck America trifft gegenwärtig auf eine anti-
amerikanische Stimmungslage. Sie haben selbst über 20 Jahre lang in Amerika
gelebt. In Fuck America heißt es einmal: "Eine ganze Woche hatte ich
überlebt." Da drängt sich fast eine Parallele zur Ghetto- Erfahrung
auf.
Es war natürlich ein Überlebenskampf in einem anderen Sinn. Ich war ja
nicht politisch bedroht. Das war eine existentielle Frage: Um zu leben,
mußte ich mich durch Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Und um zu
schreiben, habe ich so wenig wie möglich gearbeitet. Ich hab' zwei, drei
Tage in der Woche gearbeitet und in der restlichen Zeit geschrieben.
Ich war sehr enttäuscht, aber das war meine eigene Schuld. Ich habe
drüben als deutscher Schriftsteller gelebt und war deshalb immer
Außenseiter. Ich habe nicht vom Schreiben leben können und habe mich
ernährt durch Gelegenheitsjobs. Das waren die niedrigsten Jobs, die man
machen kann. Ich war ziemlich unglücklich. Mich hat diese Sucht nach Geld,
diese Jagd nach dem Dollar gestört. Das Materialistische hat mich
wahnsinnig gestört.
Warum sind Sie 1975 nach Deutschland zurückgekehrt?
Die Ausstellung in der Akademie der Künste läuft unter dem Titel
Verliebt in die deutsche Sprache. Ich habe mich tatsächlich in die deutsche
Sprache verliebt, und zwar in Rumänien. Ich hab' in der Bukowina gelebt.
Das hat mal zu Österreich gehört und wurde dann von Rumänien
annektiert. Und in der Bukowina sprach man Deutsch. Das war eine deutsche Insel
außerhalb Deutschlands. Die deutsche Sprache mußte man dort lieben,
um sie nicht zu verlernen. Ich hab' nie versucht, Englisch zu schreiben.
Englisch ist immer noch eine Fremdsprache, obwohl ich perfekt Englisch spreche.
Haben Sie den Eindruck, daß sich der Umgang mit der Vergangenheit in
den Jahren seit der Wiedervereinigung geändert hat?
Ich war von Anfang an der Meinung, daß die neue Generation ja nichts zu
tun hat mit dem Holocaust. Meine Freunde sind auch meistens viel jünger als
ich und unbelastet, was mir sehr gut tut. Ich persönlich habe bis jetzt
keinen Antisemitismus gespürt.
Und der offizielle Umgang ...
Ein bißchen zuviel! Im Fernsehen kommen ununterbrochen Sendungen über
Hitler und über Eva Braun. Vielleicht entspricht das ja einem
Bedürfnis der Bevölkerung, ich weiß nicht.
Sie haben einmal gesagt, Literatur müsse unterhaltsam sein. Hoffen Sie
auf diese Weise, mit Ihren Themen ein großes Publikum zu erreichen?
Ich bin fest davon überzeugt, daß Literatur unterhalten muß.
Romane, die langweilig sind, lese ich ja gar nicht. Ich lese ein paar Seiten und
lege das Buch weg. Jeder Schriftsteller hofft, daß er ein großes
Publikum findet. Aber ich denke nicht daran, wenn ich schreibe. Ich schreibe, um
das Thema loszuwerden. Und dann denke ich darüber nach, was daraus wird.
Mich hat der Holocaust geprägt. Alle meine Romane haben ja etwas mit Gewalt
zu tun und Unterdrückung. Ich versuche, ein Zeichen zu setzen gegen die
Gewalt.
Quelle:
Berliner Statdzeitung Scheinschlag