KRAFT/STENBERG: Herr Hilsenrath, Sie sind gerade aus Israel
zurückgekornmen. Der Anlass Ihres Besuches war, dass Sie jetzt zum ersten
Mal in Israel übersetzt worden sind.
HILSENRATH: Ich versuche seit Jahren, meine Bücher in Israel zu verkaufen,
aber sie wurden bisher immer von allen Verlegern abgelehnt. Vor einiger Zeit
habe ich einen israelischen übersetzer kennengelernt, der aus dem
Englischen übersetzt. Dem habe ich die englische Ausgabe von Der Nazi & der
Friseur gegeben. Er hat sie gelesen und hat gesagt, er übersetzt sie
für mich. Und ich sagte zu ihm, wir haben aber keinen Verleger. Daraufhin
sagte er zu mir, mach dir keine Sorgen, ich finde schon einen. Und so war es
auch. Er hat einen ganz kleinen, ziemlich unbekannten Verlag für mich
gefunden, der das Buch gemacht hat. Ich war erstaunt. Der Verleger ist sehr gut,
er hat das Buch in alle Zeitungen reingebracht. Das Buch ist in allen
Buchhandlungen ausgestellt. Und der Verleger will jetzt auch die Nacht verlegen.
Und wie verkauft sich der Roman in Israel?
Für israelische Verhältnisse ganz gut, der Verlag hat über
dreitausend Exemplare verkauft.
Wie war die Reaktion in der Presse?
Ich war erstaunt, ich habe Riesenkritiken, mit meinem Bild auf der Titelseite.
Aber die Kritik war ziemlich blöd. Die grösste Zeitung hat ganz
unliterarisch geschrieben, nur eine Inhaltsangabe von Der Nazi & der Friseur.
Und die andere Zeitung, die intellektuelle, die hat mich angegriffen. Sie haben
geschrieben, es wäre eine Sünde, einen Nazi nach Israel einwandern und
ihn die jüdische Identität annehmen zu lassen. Es sei ein Buch
über zwei Seelen in einem Körper.
Warum bestehen da immer noch solche Ressentinients?
Der Rezensent war ein ehemaliger Auschwitzhäftling.
Interessierten sich die Israelis für die israelische oder für die
europäische Hälfte?
Nur für die israelische. Europa wurde überhaupt nicht erwähnt.
Das finde ich natürlich auch schlecht.
Wie beurteilen Sie die jetzige Lage in Israel? Sie waren ja auch schon vor
fünfzig Jahren da, als der Staat gegründet wurde.
Israel ist ein ziemlich militaristischer Staat, aber das ist auch logisch, sie
sind ja auch ständig bedroht. Ich konnte ja nie viel anfangen mit den
Israelis, weil sie eine ganz andere Mentalität haben. Mir hat's ganz gut
gefallen, es ist ein freundliches Land. Die Leute sind sehr spontan und sehr
lebhaft.
Sie waren zwei Jahre da nach dem Krieg. Dann sind Sie doch weggegangen nach
Paris und Amerika.
Ich war auf verlorenem Posten. Ich fühlte mich schon damals als deutscher
Schriftsteller, obwohl ich erst achtzehn Jahre alt war. Ich wollte schreiben und
konnte nur Deutsch und keiner wollte mit mir Deutsch sprechen. Deutsch war sehr
verpönt. Ich wusste nicht, was ich in Israel anfangen sollte. Ich
hätte die Möglichkeit gehabt, auf eine hebräische
Universität zu gehen, aber ich konnte die Sprache nicht. Und dann wollte
ich meinen Vater wiedersehen, ich hatte ihn zehn Jahre nicht gesehen. Da habe
ich mich entschlossen, nach Frankreich zu fahren.
Haben Sie denn Kontakt zu anderen jüdischen Schriftstellern in
Deutschland?
Ich kenne zum Beispiel Jurek Becker. Aber Jurek Becker will keine Kontakte mit
anderen Schriftstellern. Auch nicht mit mir. Eigentlich gibt es solche Kontakte
nicht. Es gibt ein paar jüdische Schriftsteller, aber ich kenne sie nicht.
Ruth Klüger zum Beispiel hat ja Ihr Buch Jossel Wassermanns Heimkehr
ganz scharf kritisiert. Liegt das Problem darin, dass sie eine ganz realistische
Beschreibung des Zweiten Weltkriegs haben will, und Sie das nicht geliefert
haben? Sie haben irgendwo geschrieben, Sie können nur auf sarkastische,
zynische Weise diese ganze Geschichte erzählen, weil man es eben auf
realistische Weise nicht erzählen kann. Liegt darin ein Problem?
Jossel Wassermanns Heimkehr ist schon realistisch, schildert das jüdische
Leben, so wie es war. Aber wahrscheinlich für Ruth Klüger zu
humoristisch.
Marcel Reich-Ranicki hat anlässlich eines Buches über das Schtetl
moniert, dass das Bild des Schtetls immer so verklärt werde als ideale Welt
multikulturellen Zuschnitts. Das Gegenteil wäre der Fall gewesen: die Leute
arm, das Schtetl schmutzig.
Das stimmt auch. Ich verkläre es ein bisschen im Jossel Wassermann. Obwohl
ich auch den Schmutz beschreibe. Aber die Atmosphäre war sehr warm,
menschlich warm. Wenn wir uns an das jüdische Leben erinnern, erinnern wir
uns z. B. an die jüdische Folkloremusik, jüdische Hochzeiten,
jüdische Sitten und Bräuche. Das wird schon ein bisschen
verklärt, aber in der Erinnerung ist es schön. Es war vielleicht nicht
schön.
Wie war es dann?
Die meisten Leute waren sehr arm, kämpften um ein Stück Brot, hatten
es sehr schwer. Ich erinnere mich an meinen Hauslehrer in Sereth, der war so
arm, der konnte seine Kinder nicht ernähren. Der kam zu uns um ein
Stück Schmalzbrot. Es gab ein paar reiche Leute im Schtetl, der Rest war
arm.
Irgendwo haben Sie geschrieben, dass die Zeit im Schtetl die schönste
Zeit Ihrer Kindheit war.
Als ich 1938 ausgewandert bin, war das für mich wie eine Erlösung, aus
Nazideutschland wegzukommen, in eine Welt zu kommen, wo es keine Nazis gab.
Rumänien war ein Königreich und sehr jüdisch geprägt, und
ich habe mich dort sehr wohlgefühlt. Auch die Stimmung in Rumänien:
bisschen Balkan, bisschen Osteuropa und alles deutsch geprägt, die sprachen
alle Deutsch. Czernowitz war zum Beispiel so, wie ich mir Wien immer vorgestellt
hatte.
Sie waren neulich erst wieder in Czernowitz.
Es ist furchtbar. Es ist eine ukrainische Stadt, es gibt keine Juden mehr, auch
keine Deutschen mehr. Czernowitz war früher zu hundert Prozent
deutschsprachig. Kein Mensch spricht mehr deutsch. Es ist eine fremde Stadt, die
Häuser stehen noch. Ich habe sogar das Hotel »Schwarzer Adler«
wiederentdeckt, es war das berühmteste Hotel in Czernowitz. Ganz
vergammelt, wir sind da rein gegangen und ganz erschrocken; sogar der Fahrstuhl,
den ich mal benutzt hatte, existiert noch. Es war sehr deprimierend, denn die
Leute sind nicht mehr da. Aber ich babe einen jüdischen Schriftsteller
kennengelernt, Burg heisst er, ist 82 Jahre alt und lebt in Czernowitz. Er
schreibt noch jiddisch.
Noch einmal zurück zum Schtetl. Wie war denn das mit dem friedvollen
Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen?
Es lebten dort Ruthenen, Ungarn, Bulgaren, Huzulen, Lippowaner, Türken und
Juden durcheinander. Die handelten miteinander, hatten gesellschaftlich aber
keinen Kontakt. Es war friedlich. Es gab zwar schon kleine Reibereien, z. B.
machten sich die Rumänen über die Ungarn lustig, und die Ruthenen
über die Rumänen, Juden über die Nichtjuden, Nichtjuden über
die Juden, aber es blieb verbal, es gab keine Anschläge, keine Gewalt.
Wie erleben Sie denn den Antisemitismus in unser jetzigen Gesellschaft?
Ich persönlich erlebe überhaupt nichts, weiss nur das, was ich in
Zeitungen lese. Das ist sicher beunruhigend.
Sie haben zweimal über Völkermorde geschrieben, den am
jüdischen und den am armenischen Volk.
Ich habe über den jüdischen Holocaust geschrieben, weil ich dabei war.
Und dann wollte ich irgendwie weitermachen, wollte aber nicht wieder über
die Juden schreiben und kam dann auf die Armenier. Ein ähnliches Ereignis,
das genauso viel Stoff liefert.
Es gibt eine Szene im Märchen, wo deutsche Offiziere von den
Türken lernen, wie man einen Genozid organisiert. Haben Sie das bewusst
gemacht, dass man das so versteht, dass der Holocaust aus dem Zweiten Weltkrieg
nicht der erste war?
Ja sicher. Auch Hitler wusste, dass er nicht der erste war. Er sagte ja, wer
spricht heute noch von den Armeniern. Ob die Nazis das gewusst haben? Vielleicht
einzelne. Auf jeden Fall waren die Türken die Lehrmeister. Sie haben
angefangen. Vor allen Dingen wusste Hitler, dass keiner darüber spricht.
Die Verbrechen an den Armeniern wurden totgeschwiegen, und er glaubte, er
könne mit den Juden das gleiche machen. Insofern ist der armenische
Völkermord schon wegweisend gewesen.
Sie haben in diesem Buch vor allem im Mittelteil auch viel über die
armenische Kultur erzãhlt. Haben Sie auch stilistisch versucht, auf Armenien und
die Bukowina vor der Katastrophe zurückzublicken?
Ich konnte den armenischen Roman vor allem deswegen gut schreiben, weil ich in
der Bukowina gelebt habe. Das ist ja auch Balkan, und es gibt ähnliche
Sitten und Bräuche und eine ähnliche Atmosphäre. Ich habe in
Archiven und Bibliotheken recherchiert und bin an den historischen
Schauplätzen in der Osttürkei gewesen.
Wie entstand der Roman?
Der Roman entstand im Kopf. Ich wollte immer etwas machen über die Armenier
und habe dann darüber nachgelesen, aber noch lange nicht mit dem Roman
angefangen, weil es für mich noch zu schwierig war. Ich wusste noch zu
wenig. Ich habe dann 1984 angefangen mit der Materialsammlung. Dann bin ich nach
San Francisco gefahren, da gibt es alte, in englischer Sprache geschriebene
Quellen über die Armenier. Und ich habe auch andere Autoren gelesen aus dem
19. Jahrhundert aus der Türkei, Reisebeschreibungen über
türkische und armenische Dörfer. Ich war auch dort, habe aber nicht
viel gesehen. Es ist alles verlöscht. Ich habe das ganze Material gesammelt
und dann geordnet, aber nichts notiert, und mir alles nochmal durchgelesen. Und
dann aus dem Kopf den Roman geschrieben.
Wie sah dann so ein Arbeitstag aus?
Ich schreibe den ganzen Tag oder überhaupt nichts. Monatelang schreibe ich
kein Wort. Wenn ich schreibe, arbeite ich Tag und Nacht.
In den dreissig Jahren, in denen Sie schreiben, sind sieben Bücher
erschienen und einige wenige kurze Texte. Brauchen Sie immer wieder längere
Pausen, um danach wieder schreiben zu können?
Ich brauche genausoviel Zeit für einen Artikel wie für einen Roman.
Die Länge spielt keine Rolle. Wenn keine Inspiration da ist, mach ich
sowieso nichts. Wenn ich keine Lust habe, schreibe ich nicht. Dem Leistungsdruck
des Marktes bin ich immer ausgewichen. Ich habe einfach eine Zeitlang keine Lust
zu schreiben, irgendwann kommt's dann wieder, meist durch eine Provokation. Zum
Beispiel: Als ich den Nazi & der Friseur geschrieben habe, hatten Leute gesagt,
ich könne nach der Nacht nicht mehr schreiben. Da habe ich mir gedacht, ich
werde euch zeigen, ob ich das nicht kann.
Haben Sie Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh gelesen, bevor Sie
das Märchen geschrieben haben?
Ja. Ich kannte ihn gut.
Ist das nicht schwierig, einen neuen Roman zu schreiben über ein Thema,
das ein anderer bekannter Schriftsteller schon behandelt hat?
Ich wusste genau, wie schwer das wird, deswegen habe ich den Märchenstil
gewählt. Um etwas ganz Neues zu schreiben, Werfel hat sowas ja nie gemacht.
Aber Werfel gefiel mir gut. Direkt inspiriert hat er mich allerdings nicht, mein
Buch ist ganz anders als seines. Ich habe etwas völlig Neues gemacht.
In der amerikanischen Ausgabe von Der Nazi & der Friseur gibt es ein anderes
Ende als in der deutschen. Warum fehlen die letzten Seiten in der deutschen
Ausgabe?
Das erste Manuskript hatte am Ende auf nur zwei Seiten, wo Max Schulz vor Gottes
Thron steht und Gott ihn fragt: »Bist Du schuldig, Max Schulz?«, und
er sagt: »Ja.« Und dann klagt Max Schulz den lieben Gott an und
sagt, du bist eigentlich schuldiger als ich, denn du hast zugeguckt und nichts
gemacht. Das Buch kam ja erst in Amerika raus. Als es dann in Deutschland
gedruckt wurde, habe ich mir das nochmal durchgelesen und mir gedacht, nein, das
würde ja den Max Schulz entschuldigen. Und den ganzen Holocaust in Frage
stellen. Daraufhin habe ich die letzten zwei Seiten einfach weggestrichen. Das
bleibt in Deutschland einfach offen. Jedenfalls ist die deutsche Ausgabe die
richtige Ausgabe.
Warum haben Sie eigentlich nie Ihre Flucht nach Israel literarisch
verarbeitet? Das wäre doch auch ein interessanter Stoff.
Das
schon. Aber eigentlich habe ich nichts erlebt. Nichts, was mich
beschäftigt. Ich könnte nur etwas erfinden.
Ich habe eigentlich nie ganz verstanden, wo in Der Nazi & der Friseur Ihr
Standpunkt gegenüber den Engländern ist.
Eigentlich habe ich sie negativ beschrieben. Denn die Engländer wollten den
jüdischen Staat verhindern. Ich habe ja auch Die Sache mit den toten
Engländer geschrieben.
Diese Geschichte ist eigentlich die Antwort auf die Frage, welche Rolle Sie
bei der Gründung des Staates Israel gespielt haben. Am Schluss hat man Sie
noch gefragt, welchen Sinn das hatte, und Sie haben gesagt, das hätte gar
keinen Sinn. Haben Sie das so gemeint, dass eigentlich überhaupt nichts
einen Sinn hat auf dieser Welt?
Sicher. Damals war alles sinnlos für mich.
Und heute? Schliesslich haben Sie die Geschichte jetzt geschrieben.
Heute versuche ich einen Sinn zu finden, aber ich kann ihn nicht immer finden.
Ihr erstes Buch spielt im rumänischen Ghetto. Jossel Wassermanns
Heimkehr nun auch wieder in der Bukowina. Schliesst sich da der Kreis?
Ich wollte immer über die Bukowina schreiben, habe mich aber nie getraut.
Ich habe es immer aufgeschoben, es lag mir einfach gefühlsmässig zu
nahe. Es war auf jeden Fall die schönste Zeit meines Lebens. Das habe ich
erst jetzt aufgegriffen, es gibt keine andere Erklärung.
veröffentlicht in:
Kraft, Thomas (Hrsg.): Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen
Piper Verlag, München 1996.