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Von Edgar Hilsenrath

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Über Edgar Hilsenrath

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Edgar Hilsenrath auf
WDR3 erinnert sich
von Felix Kuballa


Jossel Wassermanns
Heimkehr: Rezitation
& Klezmermusik


Lesung vom
20. Oktober 1999
an der HS Fulda


Interview mit
Edgar Hilsenrath
von Ken Kubota


Interview mit
Edgar Hilsenrath
von Thomas Feibel


Gespräch mit
Thomas Kraft und
Peter Stenberg




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"Verliebt in die deutsche Sprache - Die Odyssee des Edgar Hilsenrath"

Wanderausstellung des
Edgar-Hilsenrath-Archivs
der Akademie der Künste
Berlin

15. Mai bis 14. Juli 2006
HS Fulda Transfer
Fulda

1. bis 28. August 2006
Gerhart-Hauptmann-Haus
Düsseldorf






Ich habe über den jüdischen Holocaust geschrieben, weil ich dabei war.

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Edgar Hilsenrath

Von Thomas Kraft und Peter Stenberg

KRAFT/STENBERG: Herr Hilsenrath, Sie sind gerade aus Israel zurückgekornmen. Der Anlass Ihres Besuches war, dass Sie jetzt zum ersten Mal in Israel übersetzt worden sind.

HILSENRATH: Ich versuche seit Jahren, meine Bücher in Israel zu verkaufen, aber sie wurden bisher immer von allen Verlegern abgelehnt. Vor einiger Zeit habe ich einen israelischen übersetzer kennengelernt, der aus dem Englischen übersetzt. Dem habe ich die englische Ausgabe von Der Nazi & der Friseur gegeben. Er hat sie gelesen und hat gesagt, er übersetzt sie für mich. Und ich sagte zu ihm, wir haben aber keinen Verleger. Daraufhin sagte er zu mir, mach dir keine Sorgen, ich finde schon einen. Und so war es auch. Er hat einen ganz kleinen, ziemlich unbekannten Verlag für mich gefunden, der das Buch gemacht hat. Ich war erstaunt. Der Verleger ist sehr gut, er hat das Buch in alle Zeitungen reingebracht. Das Buch ist in allen Buchhandlungen ausgestellt. Und der Verleger will jetzt auch die Nacht verlegen.

Und wie verkauft sich der Roman in Israel?

Für israelische Verhältnisse ganz gut, der Verlag hat über dreitausend Exemplare verkauft.

Wie war die Reaktion in der Presse?

Ich war erstaunt, ich habe Riesenkritiken, mit meinem Bild auf der Titelseite. Aber die Kritik war ziemlich blöd. Die grösste Zeitung hat ganz unliterarisch geschrieben, nur eine Inhaltsangabe von Der Nazi & der Friseur. Und die andere Zeitung, die intellektuelle, die hat mich angegriffen. Sie haben geschrieben, es wäre eine Sünde, einen Nazi nach Israel einwandern und ihn die jüdische Identität annehmen zu lassen. Es sei ein Buch über zwei Seelen in einem Körper.

Warum bestehen da immer noch solche Ressentinients?

Der Rezensent war ein ehemaliger Auschwitzhäftling.

Interessierten sich die Israelis für die israelische oder für die europäische Hälfte?

Nur für die israelische. Europa wurde überhaupt nicht erwähnt. Das finde ich natürlich auch schlecht.

Wie beurteilen Sie die jetzige Lage in Israel? Sie waren ja auch schon vor fünfzig Jahren da, als der Staat gegründet wurde.

Israel ist ein ziemlich militaristischer Staat, aber das ist auch logisch, sie sind ja auch ständig bedroht. Ich konnte ja nie viel anfangen mit den Israelis, weil sie eine ganz andere Mentalität haben. Mir hat's ganz gut gefallen, es ist ein freundliches Land. Die Leute sind sehr spontan und sehr lebhaft.

Sie waren zwei Jahre da nach dem Krieg. Dann sind Sie doch weggegangen nach Paris und Amerika.

Ich war auf verlorenem Posten. Ich fühlte mich schon damals als deutscher Schriftsteller, obwohl ich erst achtzehn Jahre alt war. Ich wollte schreiben und konnte nur Deutsch und keiner wollte mit mir Deutsch sprechen. Deutsch war sehr verpönt. Ich wusste nicht, was ich in Israel anfangen sollte. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, auf eine hebräische Universität zu gehen, aber ich konnte die Sprache nicht. Und dann wollte ich meinen Vater wiedersehen, ich hatte ihn zehn Jahre nicht gesehen. Da habe ich mich entschlossen, nach Frankreich zu fahren.

Haben Sie denn Kontakt zu anderen jüdischen Schriftstellern in Deutschland?

Ich kenne zum Beispiel Jurek Becker. Aber Jurek Becker will keine Kontakte mit anderen Schriftstellern. Auch nicht mit mir. Eigentlich gibt es solche Kontakte nicht. Es gibt ein paar jüdische Schriftsteller, aber ich kenne sie nicht.

Ruth Klüger zum Beispiel hat ja Ihr Buch Jossel Wassermanns Heimkehr ganz scharf kritisiert. Liegt das Problem darin, dass sie eine ganz realistische Beschreibung des Zweiten Weltkriegs haben will, und Sie das nicht geliefert haben? Sie haben irgendwo geschrieben, Sie können nur auf sarkastische, zynische Weise diese ganze Geschichte erzählen, weil man es eben auf realistische Weise nicht erzählen kann. Liegt darin ein Problem?

Jossel Wassermanns Heimkehr ist schon realistisch, schildert das jüdische Leben, so wie es war. Aber wahrscheinlich für Ruth Klüger zu humoristisch.

Marcel Reich-Ranicki hat anlässlich eines Buches über das Schtetl moniert, dass das Bild des Schtetls immer so verklärt werde als ideale Welt multikulturellen Zuschnitts. Das Gegenteil wäre der Fall gewesen: die Leute arm, das Schtetl schmutzig.

Das stimmt auch. Ich verkläre es ein bisschen im Jossel Wassermann. Obwohl ich auch den Schmutz beschreibe. Aber die Atmosphäre war sehr warm, menschlich warm. Wenn wir uns an das jüdische Leben erinnern, erinnern wir uns z. B. an die jüdische Folkloremusik, jüdische Hochzeiten, jüdische Sitten und Bräuche. Das wird schon ein bisschen verklärt, aber in der Erinnerung ist es schön. Es war vielleicht nicht schön.

Wie war es dann?

Die meisten Leute waren sehr arm, kämpften um ein Stück Brot, hatten es sehr schwer. Ich erinnere mich an meinen Hauslehrer in Sereth, der war so arm, der konnte seine Kinder nicht ernähren. Der kam zu uns um ein Stück Schmalzbrot. Es gab ein paar reiche Leute im Schtetl, der Rest war arm.

Irgendwo haben Sie geschrieben, dass die Zeit im Schtetl die schönste Zeit Ihrer Kindheit war.

Als ich 1938 ausgewandert bin, war das für mich wie eine Erlösung, aus Nazideutschland wegzukommen, in eine Welt zu kommen, wo es keine Nazis gab. Rumänien war ein Königreich und sehr jüdisch geprägt, und ich habe mich dort sehr wohlgefühlt. Auch die Stimmung in Rumänien: bisschen Balkan, bisschen Osteuropa und alles deutsch geprägt, die sprachen alle Deutsch. Czernowitz war zum Beispiel so, wie ich mir Wien immer vorgestellt hatte.

Sie waren neulich erst wieder in Czernowitz.

Es ist furchtbar. Es ist eine ukrainische Stadt, es gibt keine Juden mehr, auch keine Deutschen mehr. Czernowitz war früher zu hundert Prozent deutschsprachig. Kein Mensch spricht mehr deutsch. Es ist eine fremde Stadt, die Häuser stehen noch. Ich habe sogar das Hotel »Schwarzer Adler« wiederentdeckt, es war das berühmteste Hotel in Czernowitz. Ganz vergammelt, wir sind da rein gegangen und ganz erschrocken; sogar der Fahrstuhl, den ich mal benutzt hatte, existiert noch. Es war sehr deprimierend, denn die Leute sind nicht mehr da. Aber ich babe einen jüdischen Schriftsteller kennengelernt, Burg heisst er, ist 82 Jahre alt und lebt in Czernowitz. Er schreibt noch jiddisch.

Noch einmal zurück zum Schtetl. Wie war denn das mit dem friedvollen Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen?

Es lebten dort Ruthenen, Ungarn, Bulgaren, Huzulen, Lippowaner, Türken und Juden durcheinander. Die handelten miteinander, hatten gesellschaftlich aber keinen Kontakt. Es war friedlich. Es gab zwar schon kleine Reibereien, z. B. machten sich die Rumänen über die Ungarn lustig, und die Ruthenen über die Rumänen, Juden über die Nichtjuden, Nichtjuden über die Juden, aber es blieb verbal, es gab keine Anschläge, keine Gewalt.

Wie erleben Sie denn den Antisemitismus in unser jetzigen Gesellschaft?

Ich persönlich erlebe überhaupt nichts, weiss nur das, was ich in Zeitungen lese. Das ist sicher beunruhigend.

Sie haben zweimal über Völkermorde geschrieben, den am jüdischen und den am armenischen Volk.

Ich habe über den jüdischen Holocaust geschrieben, weil ich dabei war. Und dann wollte ich irgendwie weitermachen, wollte aber nicht wieder über die Juden schreiben und kam dann auf die Armenier. Ein ähnliches Ereignis, das genauso viel Stoff liefert.

Es gibt eine Szene im Märchen, wo deutsche Offiziere von den Türken lernen, wie man einen Genozid organisiert. Haben Sie das bewusst gemacht, dass man das so versteht, dass der Holocaust aus dem Zweiten Weltkrieg nicht der erste war?

Ja sicher. Auch Hitler wusste, dass er nicht der erste war. Er sagte ja, wer spricht heute noch von den Armeniern. Ob die Nazis das gewusst haben? Vielleicht einzelne. Auf jeden Fall waren die Türken die Lehrmeister. Sie haben angefangen. Vor allen Dingen wusste Hitler, dass keiner darüber spricht. Die Verbrechen an den Armeniern wurden totgeschwiegen, und er glaubte, er könne mit den Juden das gleiche machen. Insofern ist der armenische Völkermord schon wegweisend gewesen.

Sie haben in diesem Buch vor allem im Mittelteil auch viel über die armenische Kultur erzãhlt. Haben Sie auch stilistisch versucht, auf Armenien und die Bukowina vor der Katastrophe zurückzublicken?

Ich konnte den armenischen Roman vor allem deswegen gut schreiben, weil ich in der Bukowina gelebt habe. Das ist ja auch Balkan, und es gibt ähnliche Sitten und Bräuche und eine ähnliche Atmosphäre. Ich habe in Archiven und Bibliotheken recherchiert und bin an den historischen Schauplätzen in der Osttürkei gewesen.

Wie entstand der Roman?

Der Roman entstand im Kopf. Ich wollte immer etwas machen über die Armenier und habe dann darüber nachgelesen, aber noch lange nicht mit dem Roman angefangen, weil es für mich noch zu schwierig war. Ich wusste noch zu wenig. Ich habe dann 1984 angefangen mit der Materialsammlung. Dann bin ich nach San Francisco gefahren, da gibt es alte, in englischer Sprache geschriebene Quellen über die Armenier. Und ich habe auch andere Autoren gelesen aus dem 19. Jahrhundert aus der Türkei, Reisebeschreibungen über türkische und armenische Dörfer. Ich war auch dort, habe aber nicht viel gesehen. Es ist alles verlöscht. Ich habe das ganze Material gesammelt und dann geordnet, aber nichts notiert, und mir alles nochmal durchgelesen. Und dann aus dem Kopf den Roman geschrieben.

Wie sah dann so ein Arbeitstag aus?

Ich schreibe den ganzen Tag oder überhaupt nichts. Monatelang schreibe ich kein Wort. Wenn ich schreibe, arbeite ich Tag und Nacht.

In den dreissig Jahren, in denen Sie schreiben, sind sieben Bücher erschienen und einige wenige kurze Texte. Brauchen Sie immer wieder längere Pausen, um danach wieder schreiben zu können?

Ich brauche genausoviel Zeit für einen Artikel wie für einen Roman. Die Länge spielt keine Rolle. Wenn keine Inspiration da ist, mach ich sowieso nichts. Wenn ich keine Lust habe, schreibe ich nicht. Dem Leistungsdruck des Marktes bin ich immer ausgewichen. Ich habe einfach eine Zeitlang keine Lust zu schreiben, irgendwann kommt's dann wieder, meist durch eine Provokation. Zum Beispiel: Als ich den Nazi & der Friseur geschrieben habe, hatten Leute gesagt, ich könne nach der Nacht nicht mehr schreiben. Da habe ich mir gedacht, ich werde euch zeigen, ob ich das nicht kann.

Haben Sie Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh gelesen, bevor Sie das Märchen geschrieben haben?

Ja. Ich kannte ihn gut.

Ist das nicht schwierig, einen neuen Roman zu schreiben über ein Thema, das ein anderer bekannter Schriftsteller schon behandelt hat?

Ich wusste genau, wie schwer das wird, deswegen habe ich den Märchenstil gewählt. Um etwas ganz Neues zu schreiben, Werfel hat sowas ja nie gemacht. Aber Werfel gefiel mir gut. Direkt inspiriert hat er mich allerdings nicht, mein Buch ist ganz anders als seines. Ich habe etwas völlig Neues gemacht.

In der amerikanischen Ausgabe von Der Nazi & der Friseur gibt es ein anderes Ende als in der deutschen. Warum fehlen die letzten Seiten in der deutschen Ausgabe?

Das erste Manuskript hatte am Ende auf nur zwei Seiten, wo Max Schulz vor Gottes Thron steht und Gott ihn fragt: »Bist Du schuldig, Max Schulz?«, und er sagt: »Ja.« Und dann klagt Max Schulz den lieben Gott an und sagt, du bist eigentlich schuldiger als ich, denn du hast zugeguckt und nichts gemacht. Das Buch kam ja erst in Amerika raus. Als es dann in Deutschland gedruckt wurde, habe ich mir das nochmal durchgelesen und mir gedacht, nein, das würde ja den Max Schulz entschuldigen. Und den ganzen Holocaust in Frage stellen. Daraufhin habe ich die letzten zwei Seiten einfach weggestrichen. Das bleibt in Deutschland einfach offen. Jedenfalls ist die deutsche Ausgabe die richtige Ausgabe.

Warum haben Sie eigentlich nie Ihre Flucht nach Israel literarisch verarbeitet? Das wäre doch auch ein interessanter Stoff.
Das schon. Aber eigentlich habe ich nichts erlebt. Nichts, was mich beschäftigt. Ich könnte nur etwas erfinden.

Ich habe eigentlich nie ganz verstanden, wo in Der Nazi & der Friseur Ihr Standpunkt gegenüber den Engländern ist.

Eigentlich habe ich sie negativ beschrieben. Denn die Engländer wollten den jüdischen Staat verhindern. Ich habe ja auch Die Sache mit den toten Engländer geschrieben.

Diese Geschichte ist eigentlich die Antwort auf die Frage, welche Rolle Sie bei der Gründung des Staates Israel gespielt haben. Am Schluss hat man Sie noch gefragt, welchen Sinn das hatte, und Sie haben gesagt, das hätte gar keinen Sinn. Haben Sie das so gemeint, dass eigentlich überhaupt nichts einen Sinn hat auf dieser Welt?

Sicher. Damals war alles sinnlos für mich.

Und heute? Schliesslich haben Sie die Geschichte jetzt geschrieben.

Heute versuche ich einen Sinn zu finden, aber ich kann ihn nicht immer finden.

Ihr erstes Buch spielt im rumänischen Ghetto. Jossel Wassermanns Heimkehr nun auch wieder in der Bukowina. Schliesst sich da der Kreis?

Ich wollte immer über die Bukowina schreiben, habe mich aber nie getraut. Ich habe es immer aufgeschoben, es lag mir einfach gefühlsmässig zu nahe. Es war auf jeden Fall die schönste Zeit meines Lebens. Das habe ich erst jetzt aufgegriffen, es gibt keine andere Erklärung.

 

veröffentlicht in:
Kraft, Thomas (Hrsg.): Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen Piper Verlag, München 1996.