Wenn der erschütterte Leser Edgar Hilsenraths Ghetto-Roman
Nacht - es handelt sich um die Menschennacht - aus
der Hand legt, ist er ein anderer geworden. Nur der verblendete, stumpf
geblichene oder brutale Verächter des Leidens kann dieses Epos des Grauens
hinnehmen, ohne bis ins Innerste von der Heimsuchung betroffen zu sein.
Literarische Wertmaßstäbe werden angesichts der in dem ukrainischen
Ghetto von Prokow am Dnjestr geschehenen Greuel zu Klischeebegriffen. Der
Kritiker wird die Ohnmacht der Worte erfahren, und er wird erneut feststellen,
wie antiquiert die sich anbietenden literarischen Kategorien und
Klassifizierungsmöglichkeiten sind. Vor der nackten Gewalt des Schreckens
und des Todes, aber auch vor der verborgenen und vom Autor in der Gestalt der
Debora verkörperten Liebe, erweisen sich alle Hilfsmittel kritischer
Bewertung als ungeeignet. Der Kritiker wird zu einem Bekenntnis gezwungen. Er
hat nur die eine Aufgabe: Sein Pro oder Kontra zu formulieren. Prokow, von den
Russen geräumt, von Bomben eingeebnet und von den nachstoßenden
rumänischen Verbänden des Marschalls Antonescu besetzt, ist ein
fiktiver Ort. Aber Prokow steht für alle jüdischen Ghettos. Es ist der
gleichnishafte Name für die absolute Vernichtung. In einem kurzen Nachwort
sagt der Autor, der 1941 mit fünfzehn Jahren in das Ghetto der ukrainischen
Ruinenstadt Mogilew-Podolsk deportiert wurde: »Prokow am Dnjestr ist ein
symbolisches Ghetto; es ist auf keiner Landkarte zu finden. Seine Ruinen
können überall stehen und seine Menschen überall leben, wo das
Rad der Geschichte um Jahrtausende zurückgedreht wird.«
In seinem Vorspruch gibt Hilsenrath eine Art Topographie dieser Kulisse des
Grauens, vor der sich das Schicksal der Juden erfüllt, deren verzweifeltes
Ringen um Überleben im Kampf mit Hunger, Kälte, Schlamm und
Flecktyphus er zum zentralen Thema seines Epos macht. Ranek, die
Mittelpunktfigur, ein sich verbissen gegen den Hungertod wehrender Jude aus
Litesti, betritt gleich auf der ersten Seite die Szene: »Er hatte ein
völlig verwahrlostes Gesicht, in dem Hunger und Not erbarmungslos
gewühlt hatten. Er drückte den zu großen fremden Hut jetzt
tiefer in die Stirn; seine Hosen, die mit einem Eisendraht verschnürt
waren, band er fester zu; er hatte kein Hemd an, und seine eingefallene Brust
schaute grau und haarig unter der zerfetzten Jacke hervor...«
Es ist eine Märznacht des Jahres 1942, und Ranek hat gerade seinem
verstorbenen Freund Nathan die Fußlappen ausgezogen, hat den Hut des Toten
gegen seinen zerlumpten Hut eingetauscht, er hat ihn »beerbt« - wie
es in der Sprache der Ghettobewohner heißt. Er wird später auch einem
noch Lebenden die Schuhe stehlen, als er bemerkt, daß der
Flecktyphuskranke verloren ist. Und schließlich schlägt er seinem
toten Bruder in Gegenwart seiner Schwägerin Debora mit einem Hammer einen
Goldzahn aus, um ihn auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel zu tauschen. Ranek
wird zum Dieb, Frauenschänder und Leichenfledderer. Sein kurz befristetes
Leben - auch er stirbt wie fast alle Bewohner des sogenannten
»Nachtasyls« am Fleckfieber - wird zu einem Amoklauf. Debora, die
ihn auf eine zarte und verhaltene Weise liebt, kann die Verbrechen, die die
Verzweiflung provoziert, nicht verhindern.
So enden Tausende, von jeder ärztlichen Hilfe ausgeschlossen, auf ihren
Pritschen, in ihren Löchern, im Bordellkeller und wo sie noch vor den
erbarmungslosen Streifen der rumänischen und jüdischen Polizei
Zuflucht gefunden haben.
Scham und dumpfe Benommenheit würden wie ein lähmender Alpdruck nach
dieser so notwendigen Lektüre zurückbleiben, wenn nicht die Gestalt
der Debora am Ende der Heimsuchung ein Bild gegen die völlige Verwahrlosung
und Vertierung aufrichten würde. Debora, das ist die Hoffnung. Sie nimmt
ein »Bastardkind« zu sich, das die Mitbewohner zu töten
versuchen, und führt mit ihm den aussichtslosen Kampf ums Überleben
weiter. »Debora lächelte«, läßt uns der Autor
wissen. Und das ist die Lehre dieses Kompendiums des Grauens.
Hilsenrath erreicht diese Wirkung der äußersten Beteiligung des
Lesers durch Verzicht auf jedes Ressentiment oder gar gefühlsselige Pathos.
Sein Medium ist die Distanz, der klare, nüchterne und doch ungeheuer
beteiligte Abstand zu seinen Figuren und dem unfaßbaren Geschehen im
»Nachtasyl«, im Bordell, auf den mit Leichen übersäten
Straßen. Darin besteht seine Kunst. Das ist über die menschlichen
Impulse hinaus, die er dem Leser vermittelt, das literarische Verdienst Edgar
Hilsenraths. Denn es handelt sich bei dieser Gigantomachie des Entsetzens, die
die Bildvisionen Boschs, Brueghels und selbst Picassos Guernica
überflügelt, in jeder Hinsicht um ein Kunstwerk, nicht um eine
Dokumentation. Und es ist das Erstaunliche an diesem Buch, daß es trotz
der romanhaften Handlung alle Fakten eines Dokumentarberichts von nie gekannter
Furchtbarkeit und Endgültigkeit vorweist. Dem Autor ist es gelungen, diese
beweiskräftigen Fakten, das sogenannte epische Material, von den realen
Gegebenheiten zu lösen und zur Dichtung zu erheben. Das konnte nur erreicht
werden, weil sich in seinem Roman Leidenschaft und handwerkliches Können
zur Meisterschaft verbinden.
Echo der Zeit, 2.5.1965
veröffentlicht in: Kraft, Thomas (Hrsg.): Edgar Hilsenrath: Das Unerzählbare erzählen, Piper, 1996